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Schuldgefühle statt Mutterglück?

Schuldgefühle statt Mutterglück?

„Müsste ich nicht glücklich sein?“ Die Symptome einer postpartalen Depression sind vielfältig und belastend. Foto: © grooveriderz - stock.adobe.com
Portratitfoto des Artikel-Autors Robert Targan
Von ROBERT TARGAN (Freier Texter, Autor & Redakteur)
5 Min.Lesezeit

Wenn rund um eine Geburt statt der erwarteten Freude anhaltende Traurigkeit und innere Leere auftreten, fragen sich betroffene Frauen mit Sorge: Müsste ich nicht überglücklich sein? Hält dieser Zustand nun dauerhaft an? Jährlich erleben rund 100.000 Mütter in Deutschland seelische Krisen während oder nach einer Schwangerschaft. Der gemeinnützige Verein „Schatten & Licht e.V.“ nimmt sich peripartalen* Problemfeldern an und steht Müttern in Zeiten physischer und emotionaler Umwälzungen zur Seite. Sabine Surholt, 1. Vorsitzende des Vereins, weiß: Mit einer entsprechenden Unterstützung gelingt es sehr oft noch im Nachhinein, eine gute Bindung zum Kind aufzubauen.

Die Zeit rund um eine Schwangerschaft kann von starken Stimmungsschwankungen geprägt sein: Glücksgefühle wechseln sich mit Sorgen oder Erschöpfung ab. Ab wann sollte man sich mit diesen Empfindungen an Experten wenden?

Sabine Surholt: Unsicherheiten und widersprüchliche Gefühle sind in dieser Phase völlig normal, nicht umsonst wird die Zeit rund um eine Entbindung als sehr vulnerabel bezeichnet. Da passiert bei der Mutter einfach ganz viel, es ist wissenschaftlich belegt, dass sich ganze Hirnstrukturen ändern. Ein umfassender Einfluss also auf Körper und Psyche, nicht nur hormonell. Sollte die betroffene Frau unter diesen Gefühlen jedoch massiv leiden und fühlt sie sich in ihrem Alltag zusehends eingeschränkt, ist professionelle Hilfe ratsam. Hier stellt die Hebamme eine erste Vermittlungsperson dar, schließlich hat sie die Mutter idealerweise während der gesamten Schwangerschaft begleitet und kann somit bestimmte Wesensveränderungen frühzeitig erkennen.

Inwiefern unterscheidet sich dies vom sogenannten Baby Blues, der ja auch mit Niedergeschlagenheit, Reizbarkeit und Schlafstörungen einhergehen kann?

Dieses Phänomen, so ist man sich einig, geht auf die Veränderung des Hormonhaushalts zurück. Sehr viele Frauen machen die genannten Erfahrungen, die bis zu zwei Wochen nach der Entbindung anhalten können. Nicht selten sind die Mütter dann hypersensibel, sie reagieren sehr empfindlich auf das, was an sie herangetragen wird. Auch die Beschwerlichkeiten der Geburt wirken da nach. Das Fatale daran ist allerdings: Viele Symptome eines Baby Blues – Müdigkeit, Erschöpfung, Energiemangel – ähneln denen einer postpartalen Depression. Mit dem großen Unterschied, dass der Baby Blues eben erfahrungsgemäß nach zehn bis 14 Tagen abklingt.  

Welche Signale lassen darauf schließen, dass ein anhaltender Zustand droht?

Bei der postpartalen Depression gesellen sich zu den bereits erwähnten Symptomen weitere hinzu. Es können zwiespältige Gefühle dem Kind, dem Partner oder Freunden gegenüber entstehen. Die Frauen empfinden eine innere Leere und verlieren den Bezug zu früheren Interessen oder Hobbys. Von vielen Müttern ist zu erfahren, dass sie zudem an Konzentrationsstörungen leiden, sie verspüren keinen Appetit und finden kaum Schlaf. Ebenso können psychosomatische Beschwerden auftreten: Kopfschmerzen, Schwindel, Herzprobleme oder Magen-Darm-Erkrankungen. Ein äußerst wichtiges Signal für eine Depression nach der Schwangerschaft sind Schuld- und Versagensgefühle. Die Mütter berichten von der Befürchtung, nicht gut genug für ihr Kind sorgen zu können. Dass sie dieser Aufgabe nicht gewachsen seien. All das sind typische Merkmale, die weit über einen Baby Blues hinausreichen.

Wie steht es um Ängste und Zwänge?

Diese können bei der postpartalen Depression im übertriebenen Maße auftreten und sich zum Beispiel in zwanghaften Handlungen im Hygienebereich äußern. Dann desinfizieren die Mütter immer wieder die Umgebung ihres Kindes und waschen sich unzählige Male die Hände, bevor sie es berühren. Handelt es sich um eine sehr stark ausgeprägte Depression und wird der Mutter in dieser Phase nicht geholfen, sind sogar Suizid-, in äußersten Fällen auch Infantizidgedanken möglich. Die Vorstellung also, das Kind mit in den Tod zu nehmen. Trotz der hohen psychischen Belastung sprechen wir hier glücklicherweise von Ausnahmefällen, zumal Frauen – erst recht Mütter – weniger zum Selbstmord neigen, als es Männer tun. Dennoch: Es ist wichtig, dass ihnen unmittelbar geholfen wird, um eine Chronifizierung der Depression zu verhindern!  

   


Das Tabu der postpartalen Problematik brechen

Der „Schatten & Licht e.V.“ wurde 1996 als bundesweiter gemeinnütziger Verein von betroffenen Frauen als Selbsthilfe-Organisation gegründet. Er befasst sich mit Problemfeldern wie der peripartalen Depression, Angst- oder Zwangsstörungen und der peripartalen Psychose. Zielsetzung des Vereins ist es, das bundesweite Beratungs- und Selbsthilfegruppen-Netz weiter aufzubauen, Fachleute-Listen zu erstellen, Informationen zu speziellen Mutter-Kind-Einrichtungen zu erfassen und die wissenschaftliche Forschung zu unterstützen. Mittels Vorträgen, Fortbildungen und Medien möchte der „Schatten & Licht e.V.“ den belastenden Mythos der allzeit glücklichen und perfekten Mutter entlarven und das Tabu der postpartalen Problematik brechen.


 

Welche möglichen Risiken bestehen für die spätere Entwicklung des Kindes?  

In der Schwangerschaft entsteht eine Einheit zwischen Mutter und Kind – ohne Frage wirkt sich da psychischer Druck auch auf das heranwachsende Leben aus. Gleiches gilt für soziale Ängste und Probleme in der Partnerschaft. Eine Mutter, die während der Schwangerschaft eine starke Depression entwickelt, hat nach der Geburt mitunter Schwierigkeiten, eine Bindung zum Baby aufzubauen. Da braucht es weitere Bezugspersonen, die das auffangen können, während der Mutter aus der Depression geholfen wird. Bei einer entsprechenden Unterstützung gelingt es sehr oft auch im Nachhinein noch, eine gute Bindung aufzubauen. Das lässt sich also glücklicherweise nachholen.

Die Initiative „Schatten & Licht e.V.“ wurde 1996 von betroffenen Frauen ins Leben gerufen: Mit welchen Themen treten Hilfesuchende an Sie heran?

Das ist vor allem der Irrglaube, sie seien die Einzigen, die unter solchen Beeinträchtigungen leiden. Das zeigt, dass es sich bei peripartalen Depressionen immer noch um ein Tabuthema handelt. Meist setzt eine erste Befreiung ein, wenn ich einer Anruferin berichte, dass hierzulande jede siebte Mutter entsprechende Erfahrungen macht. Nach außen wird heute immerzu das Bild der perfekten Super Mom transportiert – somit weiß eine Betroffene gar nicht, ob die neben ihr sitzende Mutter im Rückbildungskurs nicht vielleicht auch an einer Depression leidet. Im Englischen findet sich da der treffende Begriff „Smiling Depression“. Nach einem ausführlichen Erstberatungsgespräch schauen wir als Initiative, welche Hilfsmöglichkeiten sich anbieten: Das kann der Austausch in einem Forum oder ein Treffen mit anderen Frauen sein. In einer nächsten Stufe vermitteln wir Kontakte zu unseren Beraterinnen, allesamt ehemals betroffene Mütter, fortgebildet und geschult durch den „Schatten & Licht e.V.“. Bundesweit verfügen wir über ein großes Netzwerk aus Selbsthilfegruppen.

Sie haben heutige Mutterbilder angesprochen – erhalten physische und emotionale Belastungen rund um eine Schwangerschaft die nötige Berücksichtigung?

Früher sind die Menschen meist in Großfamilien aufgewachsen – wenn bei älteren Geschwistern oder im erweiterten Verwandtenkreis Nachwuchs unterwegs war, gab es automatisch Berührungspunkte mit Neugeborenen. Frauen hatten also bereits ein Baby auf dem Arm, haben es vielleicht auch gewickelt, bevor sie selbst Mütter wurden. Heute besitzen viele von ihnen jedoch gar nicht die Möglichkeit, zuvor solche Erfahrungen live zu machen. Sie kennen nur diese Darstellung der glücklichen und perfekt gestylten Mutter, begünstigt durch Hochglanzmagazine und Social Media. Es wird ein Rollenbild entworfen, an dem man eigentlich nur scheitern kann. Das wirkt enorm belastend, sieht die Realität doch anders aus: Da kommt man in den ersten Wochen nach der Entbindung vielleicht kaum aus dem Schlafanzug heraus!

Wie ordnen Sie hierzulande die Versorgung peripartaler psychischer Erkrankungen ein?

Obwohl sich unser Verein „Schatten & Licht“ seit nun über einem Vierteljahrhundert genau dafür einsetzt, hinkt Deutschland hier ziemlich hinterher. Da ist ein Land wie England, das sich gar nicht unbedingt durch sein Gesundheitssystem hervortut, wesentlich besser aufgestellt. Dort findet schon während der Schwangerschaft und auch nach der Geburt ein flächendeckendes Screening in Form engmaschiger Befragungen statt. Ein einfaches Hilfsinstrument, um rechtzeitig herausfinden zu können, ob die Mutter sich in einer psychischen Krise befindet. Für mich ist es unerklärlich, dass solch ein einfacher Fragebogen hierzulande nicht zum Einsatz kommt, etwa im Rahmen gynäkologischer Untersuchungen.            

Welche weiteren Möglichkeiten der Früherkennung bestehen? Was können zum Beispiel Hebammen und Geburtsvorbereitungskurse leisten?

Es lassen sich nur Probleme lösen, die auch bekannt sind. Sprich: Wer weiß, dass es das Phänomen der Schwangerschaftsdepression gibt, kann auch rechtzeitig Signale deuten. In den Geburtsvorbereitungskursen kam die Problematik früher gar nicht zur Sprache – mittlerweile schon, wenn auch eher oberflächlich. Es wäre wichtig, dies noch viel ausführlicher zu tun, schließlich werden in diesen Kursen doch auch andere mögliche Komplikationen thematisiert. Viele Mütter, die wir als Selbsthilfeorganisation kennenlernen, hatten ein traumatisches Geburtserlebnis, leiden an Flashbacks und zeigen Anzeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung. Die Hebamme hat am ehesten ein Gefühl dafür, wie eine Geburt verlaufen ist und ob die Mutter sich danach psychisch stark verändert hat. Sie kann einschätzen, ob es weitere Hilfe braucht. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass Hebammen aufgrund des Klinikalltags heute selbst stark überlastet sind.

Wie lassen sich die erwähnten Scham- und Versagensgefühle lösen?

Solche Empfindungen sorgen für einen hohen Leidensdruck. Die Frauen werfen sich vor, ihr Kind nicht anlächeln zu können. Sie verurteilen sich dafür, dass sie nicht entspannt mit ihm spielen können. Bei einer Depression geht es aber nicht darum, Schuldige auszumachen – es handelt sich um eine ernstzunehmende Krankheit. Diese entsteht weder aus einer übertriebenen Fürsorge, noch aufgrund überzogener Ängste rund um den Nachwuchs. Als Verein raten wir immer dazu, sich zeitnah um eine Unterstützung durch Psychosoziale Hilfen oder Schwangerschaftsberatungsstellen zu kümmern. Das ist auch ein Jahr nach der Geburt noch möglich und stellt eine gute Methode dar, um die Zeit bis zu einer Psychotherapie zu überbrücken. Wir vermitteln Kontakte zu Fachleuten wie Psychotherapeuten und Psychiatern sowie zu speziellen Mutter-Kind-Einheiten. Auch bietet der „Schatten & Licht e.V.“ therapeutisch begleitete Gruppen an. Dort erhalten die Mütter Tipps und Unterstützung in schwierigen Zeiten. Sie werden mit ihren Ängsten und Unsicherheiten in diesem herausfordernden Lebensabschnitt nicht allein gelassen.

schatten-und-licht.de

 


* (lat.: peri = rund um, partus = Niederkunft)

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