Jeder fünfte Mensch in Deutschland erkrankt statistisch gesehen einmal im Leben an einer Depression. Je nach Veranlagung können psychophysiologische Stressfaktoren dieses Leiden begünstigen. Aufgrund ihres strapaziösen Berufsalltags zählen Beschäftigte im Rettungsdienst hier verstärkt zur Risikogruppe – gleichzeitig halten Stigmatisierungsängste vor allem männliche Angestellte von einem Hilfe- gesuch ab. Das kostenfreie Online-Angebot RUPERT* bietet Rettungskräften mittels Informationsplattform und Diskussionsforum eine Unterstützung zur Stärkung der psychischen Gesundheit. Die Diplom-Soziologin und Projektkoordinatorin Anne Blume (Diskussionsforum Depression e.V.) unterstreicht: „Auch Rettungskräfte, die täglich Leben retten, brauchen manchmal selbst Unterstützung.“
Die Arbeit im Rettungsdienst ist mit ganz unterschiedlichen Stressoren und Ausnahmesituationen verbunden – können Sie Beispiele für diese täglichen Anforderungen nennen?
Anne Blume: Das beginnt mit körperlichen Belastungen, also ganz klassisch Rückenschmerzen, da Rettungskräfte in ihrer Arbeit häufig schwer heben müssen. Auch ist der tägliche Umgang mit der Verantwortung für das Leben anderer Menschen nicht zu unterschätzen. Hinzu kommt der rasche Wechsel von Erholungs- und Aktivitätsphasen, den jede Sanitäterin und jeder Sanitäter für sich selbst moderieren muss. Ähnlich verhält es sich mit dem verschobenen Tag- und Nachtrhythmus durch die Schichtarbeit – Gegebenheiten, die mit fortlaufender Berufszugehörigkeit sicherlich schwerer fallen als noch in jungen Jahren. Neben all diesen Faktoren, die den Berufsalltag beschreiben, darf die zunehmende Gewalt gegenüber Einsatzkräften nicht vergessen werden, sei es verbal oder gar körperlich. Da fehlt es in der Bevölkerung mitunter an einem ausgeprägten Verständnis für diese Arbeit und die Herausforderungen im Rettungsdienst.
Jeder Mensch erlebt solche Strapazen anders: Welche Signale können darauf hinweisen, dass nicht mehr „nur“ von Stress, sondern von einer psychischen Belastung zu sprechen ist?
Das gestaltet sich in der Tat sehr individuell und hängt von persönlichen Faktoren ab. In Interviews mit Rettungskräften haben wir erfahren, dass ganz unterschiedliche Erlebnisse dazu beitragen können: Sanitäterinnen und Sanitäter, die selbst eine Familie haben, sind bei Einsätzen mit Kindern unter Umständen mehr gefordert. Auch die Einsatznachsorge spielt dann eine wichtige Rolle – findet dort eine gute Betreuung statt? Ist dies nicht der Fall, besteht ohne Frage bei entsprechender Veranlagung ein gewisses Risiko, dass neben Befindlichkeitsstörungen wie Stress oder Burnout auch einzelne depressive Symptome auftreten können.
Zahlen einer RKI-Befragung zeigen, dass im Rettungsdienst im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung doppelt so viele Menschen von einer depressiven Erkrankung betroffen sind. Wie beurteilen Sie hier die bisherige Aufklärungsarbeit?
Diese Problematik wird heutzutage zum Glück intensiver diskutiert als noch vor ein paar Jahren. Das hängt auch mit einem Generationenwechsel im Rettungsdienst zusammen: Mittlerweile hat das Thema der psychischen Gesundheit Eingang in das Curriculum der Notfallsanitäter-Ausbildung gefunden. Hinzu kommt, dass das Netz aus Nachsorgemaßnahmen heute besser funktioniert. Mit unserem RUPERT-Programm begreifen wir uns dabei als kleines Puzzleteil, das eine ergänzende Unterstützung ermöglicht. Dieses niedrigschwellige Zusatzangebot soll nicht nur nach schweren Einsätzen greifen, sondern idealerweise schon im Vorfeld präventiv eine Sensibilisierung für psychische Gesundheit schaffen, damit die Protagonistinnen und Protagonisten diesen anspruchsvollen Beruf ausüben können.
68 Prozent der Beschäftigten im Rettungsdienst sind Männer; depressive Erkrankungen werden bei ihnen oftmals erst spät erkannt. Weshalb gestaltet sich hier das Hilfesuchverhalten so problematisch?
Ziel von RUPERT ist es, eine Unterstützung anzubieten, die von allen Betroffenen in diesem Berufsfeld aktiv genutzt wird. Auch wenn der Anteil beschäftigter Frauen im Rettungsdienst mittlerweile merklich zugenommen hat, ging es uns vor allem darum, ein Angebot zu schaffen, auf das auch männliche Beschäftigte gern zurückgreifen. Denn: Tatsächlich geben viele Studien Hinweise darauf, dass Männer Präventionsangebote zögerlicher in Anspruch nehmen. Das gilt zum einen für die gängigen Vorsorgeuntersuchungen. Aber auch die Idee, sich um die eigene psychische Gesundheit zu kümmern, ist bei dieser Zielgruppe eher weniger ausgeprägt. Umfangreiche Untersuchungen haben beispielsweise gezeigt, dass nach dem 11. September 2001 in den USA Angebote der psychosozialen Nachsorge von männlichen Rettungskräften bereits nach kurzer Zeit abgebrochen wurden. Unsere Herausforderung war und ist es weiterhin, insbesondere Männern die Zusammenhänge aufzuzeigen. Zu verdeutlichen, was geschieht, wenn das Stresslevel permanent hoch und der „Tacho“ immerzu am Anschlag ist.
Der Zugang zu hilfreichen Angeboten wird also auch aufgrund bestimmter gesellschaftlicher Rollenbilder erschwert?
Die Art und Weise, wie Männer mit belastenden Lebenssituationen, Stress oder Krankheiten umgehen, unterscheidet sich häufig von der weiblichen Vorgehensweise. Treten Schwierigkeiten auf, ist es bei Männern nicht selten so, dass die Leistungsbereitschaft sogar noch erhöht wird. Da werden Gedankenspiele wie „Ich muss jetzt noch tougher und härter sein“ entworfen. Oder: „Ich muss noch mehr Sport treiben, um das Problem in den Griff zu bekommen.“ Andere Strategien führen zum Konsum von Alkohol, Tabak und möglicherweise auch härteren Drogen. All das sehen wir zwar auch bei Frauen; man erkennt in den genannten Beispielen jedoch Rückschlüsse auf eine traditionelle männliche Sozialisation. Zudem liegt es teils in der Identität dieser Berufsgruppe – ob nun Sanitäterin oder Sanitäter – dass wir von Helfern sprechen. Von starken Persönlichkeiten. Geht es um Stressbewältigungsstrategien und Selbstfürsorge, kann dies jedoch dysfunktional wirken.
Welche Themen und Hilfestellungen bietet hier die RUPERT-Informationsplattform?
Mit ihren psychoedukativen Inhalten vermittelt sie Wissen und beantwortet Fragen à la „Was ist Stress?“, „Bin ich depressiv?“ oder „Wo gibt es Hilfe?“. Ganz wichtig ist dabei die Erfahrung: Wie geht es anderen Rettungskräften? Die Auseinandersetzung mit derlei Themen gelingt auf einer anonymen Internetplattform natürlich oftmals einfacher als im Alltag auf der eigenen Rettungswache. Bei RUPERT treffen Hilfesuchende auf Menschen, denen sie nicht erklären müssen, wo sie herkommen und was ihre besonderen Anforderungen sind. Da findet der Austausch auf einer ganz anderen Ebene statt.
Auch sogenannte Powertools sind dort zu finden: Welche konkreten Informationen und Übungen werden auf diese Weise zur Prävention und Selbsthilfe vermittelt?
Da ist zu unterscheiden zwischen den Hilfestellungen, die sich Rettungskräften im normalen Alltag bieten und jenen im direkten Einsatz. Im letzteren Fall sind die Möglichkeiten natürlich begrenzt, da spielen maximal Tipps zur Konzentration auf Routinetätigkeiten eine Rolle. Ratschläge, die Menschen in anderen Situationen und Berufsgruppen helfen – „Geh aus der Situation heraus“ oder „Tritt einen Schritt zurück“ – sind hier verständlicherweise nicht umsetzbar. Daher ist auch die Zeit vor und nach der Schicht so wichtig: Wie gestaltet sich der Feierabend? Was passiert morgens beim Frühstück, wenn man sich gedanklich schon auf dem Weg zur Arbeit befindet? Entspannungsverfahren wie eine progressive Muskelrelaxation können da nach mehrmaligem Trainieren beispielsweise eine Hilfe sein.
Andere Tools tragen die Namen „Gedankenstopp“ oder „Gedankliche Distanzierung“ …
… und können ebenfalls einen Platz im ganz persönlichen „Notfallkoffer“ finden. Bei diesen Übungen geht es darum, immer wieder auftretende Gedankenschleifen, Grübeleien oder Fragen zu bestimmten Einsätzen in den Griff zu bekommen. Und auch wenn solche Maßnahmen wie der „Gedankenstopp“ keine Früchte tragen, kann am Ende die Erkenntnis stehen, dass es eben eine professionelle Unterstützung braucht. Dass der Stress und die Belastungen nicht mehr alleine zu bewältigen sind. Da möchten wir als Initiatoren von RUPERT das Hilfesuchverhalten fortwährend verbessern.
Im „Diskussionsforum Depression“ steht zudem ein integriertes Unterforum exklusiv für Rettungskräfte zur Verfügung. Wie hilfreich ist der anonyme Austausch in den dortigen Kleingruppen?
Das „Diskussionsforum Depression“ besteht bereits seit dem Jahr 2001. Ziel war es nun, Wissen und Erfahrungen auf eine spezifische Zielgruppe anzuwenden. Parallel zu unserer Informationsplattform ist somit ein geschütztes Unterforum für Rettungskräfte entstanden. Ein Ort also, wo sie auf Gleichgesinnte treffen und der ihnen die Chance bietet, die persönliche Situation mit anderen Erfahrungen abzugleichen.
Was wünschen Sie sich künftig in Sachen Aufklärungs- und Präventionsarbeit?
Wichtig ist eine offene Kommunikation und Sensibilisierung rund um das Thema. Es braucht die Anerkennung der Tatsache, dass das psychische Befinden genauso wie das physische ein integraler Bestandteil der Gesamtgesundheit ist. Das muss auch im Rettungsdienst diskutierbar sein, damit die Mitarbeitenden sich jederzeit trauen können, über ihre mentale Verfassung zu sprechen. Und zwar ohne Angst vor einer Stigmatisierung oder Vorverurteilung. Auch regelmäßige Schulungen und Fortbildungen in den Bereichen Stressbewältigung, Burnout-Prävention und berufliche Belastung können dazu beitragen, dass das Bewusstsein für die psychische Gesundheit im Rettungsdienst weiter geschärft wird.
Information, Austausch und Prävention
Das foRUm für Psychische gEsundheit im deutschen RetTungsdienst bildet eine Unterstützung zur Stärkung der psychischen Gesundheit von Rettungskräften ab. Das Angebot beinhaltet einzelne Module zu Themen wie Psychische Gesundheit im Rettungsdienst, Psychosomatik und Stress, Folgen von chronischem Stress sowie Resilienz und Selbstfürsorge. Einzelne Module legen den Schwerpunkt auf Männergesundheit, haben doch Untersuchungen im medizinischen Bereich gezeigt, dass bei dieser Zielgruppe eine erhöhte Angst vor Stigmatisierung herrscht. Dies wiederum führt bei Männern zu Schwierigkeiten, Hilfe in Anspruch zu nehmen.
RUPERT ist ein Projekt des Diskussionsforums Depression e.V. in Kooperation mit der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention. Die Weiterentwicklung des Diskussionsforum Depression in Form von RUPERT wird durch die Stiftung Movember (movember.com) gefördert. Dies ist eine weltweit führende Wohltätigkeitsorganisation, die sich für Männergesundheit einsetzt, mit Schwerpunkt auf psychischer Gesundheit, Suizidprävention, Prostatakrebs und Hodenkrebs. Gemeinsam mit der Universität Canberra evaluiert Movember das Programm, um innovative Forschung und Unterstützungsmaßnahmen zu fördern.