Beschäftigte im Rettungs- und Gesundheitswesen beklagen einen immer stärkeren Respektverlust gegenüber Menschen ihres Berufsstandes. Wenn Notfallmaßnahmen durch Gaffer behindert und Einsatzkräfte tätlich angegangen werden, scheinen gesellschaftliche Schieflagen auf Angestellte in Krankenhäusern, Notaufnahmen oder im täglichen Rettungsdienst abgewälzt zu werden. Diese Entwicklung hat alarmierende Konsequenzen: Immer mehr Betroffene klagen über psychische Belastungen oder kündigen infolge von Übergriffen ihren Beruf.
Angestellte in Krankenhäusern, Pflegende, Feuerwehr- und Rettungskräfte – sie alle sind immer häufiger von Pöbeleien, Beleidigungen oder gar gewalttätigen Übergriffen betroffen. Dass Angriffe auf Notärzte, Krankenwagen oder Klinikpersonal in den letzten Jahren verstärkt zugenommen haben, belegt eine repräsentative Umfrage des Deutschen Krankenhausinstituts (DKI) im Auftrag der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), an der sich im April 2024 bundesweit 250 Allgemeinkrankenhäuser ab 100 Betten beteiligt haben. Eine Erkenntnis der Erhebung: In drei Vierteln der deutschen Krankenhäuser haben körperliche und verbale Übergriffe auf das Krankenhauspersonal in den letzten fünf Jahren zugenommen. Dabei ist allerdings von einer Dunkelziffer auszugehen, da vor allem kleinere Übergriffe vielfach nicht zur Anzeige führen – diese, so heißt es laut DKI und DKG, werden mittlerweile schlichtweg als zur Tätigkeit gehörende Normalität angesehen.
+++ Mai 2023 +++ Ratingen +++ Brandanschlag auf Einsatzkräfte +++
In Ratingen (NRW) werden eine Polizeibeamtin und ein Polizeibeamter sowie sieben Einsatzkräfte der Feuerwehr und des Rettungsdienstes ohne Vorwarnung durch eine herbeigeführte Explosion verletzt. In der Annahme, eine Person retten zu können, hatten die Männer und Frauen die Wohnung eines 57 Jahre alten Mannes und seiner Mutter gewaltsam geöffnet und betreten. Der Ratinger schleuderte den als Retter gekommenen Einsatzkräften eine große Menge Benzin entgegen und zündete es an. Durch die folgende Explosion wurden alle neun Polizisten, Feuerwehrleute und Rettungskräfte verletzt, teils lebensgefährlich.
Die allgemeine Verrohung, die mittlerweile in vielen Bereichen des täglichen Lebens zu beobachten ist, bekommen Rettungs- und Pflegekräfte, Ärztinnen und Ärzte sowie Praxisangestellte in ihrer täglichen Arbeit unmittelbar zu spüren. Prof. Dr. Henriette Neumeyer, stellvertretende Vorstandsvorsitzende der DKG, mahnt daher: „Gesellschaftliche Schieflagen dürfen nicht auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Notaufnahmen und Stationen abgewälzt werden. Selbstverteidigungskurse für Pflegekräfte, Videoüberwachung in Krankenhausfluren oder abgeschottete Sicherheitsbereiche dürfen nicht als neue oder gar hinzunehmende Normalität akzeptiert werden.“ Die Hälfte der befragten Kliniken gibt die Notaufnahme als einen besonders von Übergriffen belasteten Bereich an, dort sei vor allem der allgemeine Respektverlust gegenüber dem Krankenhauspersonal eine Hauptursache für Gewalt. Auch alkohol- und schmerzbedingte Übergriffe sowie Ungeduld bei langen Wartezeiten werden als Gründe genannt. All dies sei laut Henriette Neumeyer jedoch keine Entschuldigung dafür, dass gegenüber den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Krankenhaus viel zu oft die Schwelle zur Gewalt überschritten werde: „Es kann nicht sein, dass das Krankenhaus als letztes Glied in der Kette zum Austragungsort für gesellschaftliche Probleme wird, und dass die Beschäftigten die Folgen fehlender Patientensteuerung am eigenen Körper zu spüren bekommen.“ Außerhalb der Kliniken führt etwa der Frust über Straßensperrungen und Umleitungen – bedingt durch Rettungseinsätze – zu Wut, Provokationen und Beschimpfungen. Hinzu kommen Auseinandersetzungen mit Gaffern, Voyeuristen und Social-Media-Aktivisten.
+++ April bis Juni 2024 +++ Dortmund +++ „Böswillige Alarmierungen“ der Feuerwehr +++
Innerhalb weniger Wochen wird im Dortmunder Stadtteil Bövinghausen die Feuerwehr zwölfmal von der stets selben Person zu Einsatzorten gerufen, obwohl kein Notfall vorliegt. Allein bis zum Herbst 2024 zählte die Dortmunder Feuerwehr 67 solcher Einsätze, die als „böswillige Alarmierungen“ bezeichnet werden.
Diese Entwicklung bleibt nicht ohne Folgen: Lediglich 13 Prozent der Krankenhäuser gaben im Rahmen der DKI-Befragung an, dass Übergriffe nicht zu psychischen Belastungen unter den Betroffenen geführt hätten. Jedoch 24 Prozent der Kliniken nannten Kündigungen als Folge von Übergriffen. Schocks, Angstgefühle oder Niedergeschlagenheit führten demnach dazu, dass betroffene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihren Dienst vorzeitig beendeten, sich in ärztliche oder therapeutische Behandlung begaben oder sich arbeitsunfähig schreiben ließen. Auch ist der Umfrage zu entnehmen, dass Übergriffe aufs Personal immer wieder zu körperlichen Schäden wie Hämatome, Kratz- oder Bisswunden sowie Sachschäden (zerstörte Brillen oder Kleidung) führen. Mit Deeskalationstrainings und baulichen Maßnahmen, wie beispielsweise Zutrittsbeschränkungen und Videoüberwachung, versuchen die Krankenhäuser, Übergriffen vorzubeugen. Auf einen Sicherheitsdienst setzen 28 Prozent der Einrichtungen; eine Strafverschärfung fordern zudem 93 Prozent der befragten Krankenhäuser angesichts der zunehmenden Gewalt.
+++ Juli 2024 +++ Berlin +++ Rettungssanitäter wird während eines Einsatzes von Unbekannten attackiert +++
Ein Rettungssanitäter, der einer auf dem Boden liegenden Frau helfen möchte, wird in Berlin-Neukölln selbst zum Opfer: Während er die stark alkoholisierte Frau mit einem Kollegen versorgt, erfolgen verbale und körperliche Attacken durch umstehende Passanten. Der Rettungssanitäter muss mit Kopfverletzungen in einer Klinik behandelt werden.
Doch wie ist dieser stetig wachsenden Problematik wirksam entgegenzutreten? Die Aktivitäten der Ärztekammern reichen hier von Beratungsleistungen und Deeskalationskursen bis hin zu Sicherheitstrainings. Seitens der Bundesregierung sollen zudem gesetzliche Verschärfungen auf den Weg gebracht werden: Notwendige Maßnahmen zur Abschreckung und gleichzeitig ein Zeichen für mehr Wertschätzung gegenüber all jener, die im Gesundheitswesen tätig sind. Henriette Neumeyer von der Deutschen Krankenhausgesellschaft unterstreicht: „Wer das zunehmende Problem der Übergriffe gegen Krankenhausbeschäftigte genauso wie gegen Rettungskräfte und viele andere angehen will, muss schon deutlich vor der Krankenhausversorgung ansetzen und gesellschaftliche Schieflagen thematisieren.“ So sei es den Beschäftigten der Krankenhäuser nicht weiter zuzumuten, körperliche und psychische Angriffe hinnehmen zu müssen.
+++ September 2024 +++ Essen +++ Besucher verletzen Krankenhauspersonal +++
Bei einer gewalttätigen Attacke auf das Personal eines Essener Krankenhauses werden mindestens sechs Menschen verletzt. Im Elisabeth-Krankenhaus (Stadtteil Huttrop) hatte sich ein Reanimationsteam um die Versorgung eines schwer kranken Patienten gekümmert – dieser verstarb jedoch. Angehörige griffen daraufhin das Personal an und verletzten dabei unter anderem eine 23-jährige Angestellte schwer.
Einen traurigen Höhepunkt bildete die Silvesternacht 2022/23 in Berlin ab: Damals wurden Feuerwehrkräfte beim Löschen von Bränden attackiert und behindert; Rettungssanitäter und Polizei sahen sich Angriffen mit Feuerwerk ausgesetzt. Eine neue Stufe der Gewalt gegen Einsatzkräfte, die unter anderem zu Ermittlungen wegen einfacher und gefährlicher Körperverletzungen, Sachbeschädigungen und Landfriedensbruchs führte. Auch Widerstände und tätliche Angriffe gegen Vollstreckungsbeamte, Verstöße gegen das Waffengesetz und Ordnungswidrigkeiten im Umgang mit Silvesterböllern wurden angezeigt. „Wir fordern eine konsequente Verfolgung der Straftaten und vor allem eine gesellschaftliche Debatte und politisches Handeln über zunehmende Gewalt, soziale Schieflagen und sinkende Hemmschwellen“, so Henriette Neumeyer. „Auch Strafverschärfungen für Übergriffe gegenüber Krankenhausbeschäftigten analog zu den Verschärfungen bei Angriffen gegen Rettungskräfte sind eine Option“, ergänzt die stellvertretende DKG-Vorstandsvorsitzende. Die Ergebnisse der Studie des Deutschen Krankenhausinstituts untermauern dieses Anliegen: 93 % der befragten Häuser befürworten eine entsprechende Gesetzesänderung. Die Strafverschärfung bei Angriffen auf alle im Krankenhaus Beschäftigten und nicht nur in den Notaufnahmen – vergleichbar einer entsprechenden Strafverschärfung für Übergriffe auf Rettungskräfte aus dem Jahr 2017 – wird somit von der überwiegenden Mehrheit der Krankenhäuser begrüßt.
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+++ Oktober 2024 +++ Landkreis Stade +++ Tätlicher Angriff auf DRK-Mitarbeiterin +++
Bei einem Einsatz im niedersächsischen Stade-Bützfleth wird eine 47 Jahre alte Notfallsanitäterin des Rettungsdienstes von einer 20-jährigen Patientin angegriffen und verletzt. Dies geschah während der Behandlung von offenen Wunden. Die Sanitäterin erlitt dabei so schwere Verletzungen, dass sie im Krankenhaus behandelt werden musste.