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Jede Menge Luft nach oben

Jede Menge Luft nach oben

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Portratitfoto des Artikel-Autors Robert Targan
Von ROBERT TARGAN (Freier Texter, Autor & Redakteur)
5 Min.Lesezeit

Bis zu 21.000 Atemzüge führen wir täglich durch, meist unbewusst und automatisch. Der Breathworktrainer, Mentalcoach und Apnoetaucher Timo Niessner kennt die Wechselbeziehung zwischen einem klaren Kopf und der richtigen Atmung. Dank seiner Erfahrungen, die er beim Luft anhalten unter Wasser macht, betrachtet der gebürtige Schwabe das Leben aus einem anderen Blickwinkel: Welches Potenzial unsere Atmung besitzt und wie sie sich als Werkzeug für mehr Gelassenheit, Produktivität und unsere Gesundheit nutzen lässt, vermittelt Niessner in Workshops, Coachings und Online-Kursen.

Ob Stress, Nervosität, Gelassenheit oder Schlaf – unsere Atemfrequenz passt sich jederzeit den unterschiedlichsten Alltagssituationen an. Weshalb lohnt es sich, bewusst auf die eigene Atmung zu achten?

Timo Niessner: Die Atmung gibt mir die Möglichkeit, meinen Körper besser wahrzunehmen und zu erkennen, in welchem mentalen Zustand ich mich gerade befinde. Ein relativ einfaches Tool, auf das ich immer wieder zurückgreifen kann. Da die Atmung jederzeit nebenher läuft, lassen sich im Alltag verschiedene Techniken gut integrieren. Ein Rat, den ich den Teilnehmenden meiner Kurse beispielsweise gerne mit auf den Weg gebe, ist, einfach mal die Hand auf den Oberkörper zu legen um festzustellen, ob man sich gerade eher in einer brust- statt in einer bauchlastigen Atmung befindet. Erstere führt nämlich zu einer viel zu hohen muskulären Beanspruchung, was wiederum die generelle körperliche Anspannung sowie eine hohe Herzfrequenz begünstigt. Bei der erhöhten Atemfrequenz neigen wir zu mentalem Stress, unterstützt durch die jeweilige körperliche Situation.

Da die Nasenöffnung deutlich kleiner ist als die des Mundes, entsteht dort ein höherer Atemwiderstand. Welche Vorteile kann die primäre Nasenatmung mit sich bringen?

Da muss man differenzieren. Natürlich ist die Öffnung des Mundes grundlegend größer als die der Nase, doch letztlich landet die eingeatmete Luft über beide Wege in der stets gleichgroßen Luftröhre. Die Diskussion um diese beiden Atemwege ist sehr spannend: Die Nasenatmung wird als sehr positiv gewertet, auch wenn der angesprochene Atemwiderstand dabei nicht nur auf der Öffnung der Nasenlöcher beruht, sondern auch auf den Nasennebenhöhlen – der „Klimaanlage“ unserer Lunge. Die Mundatmung wiederum bringt uns eher an den Punkt, dass wir flach und hochfrequent atmen und dabei die Luft tendenziell zu schnell einziehen. Übrigens: In Gesprächen bemerke ich immer wieder, dass der Fokus auf einer vollen und tiefen Einatmung liegt. Dabei ist es so viel wichtiger, voll und ganz auszuatmen. Ganz gleich, ob durch Mund oder Nase.  

Weshalb?

Wenn unser Atem bewusst den Körper verlässt, entspannt sich dieser. Bei solch einem „Herausfallen lassen“ der Luft lockern wir gleichzeitig auch die Muskulatur. Ich würde da noch einen Schritt weitergehen: In stressigen Situationen oder auch Zuständen der Angst und Panik sollten wir uns immer darauf fokussieren, nicht ein-, sondern erstmal auszuatmen. Denn diese Deaktivierung des Nervensystems gibt uns die Möglichkeit, in einen ruhigeren Zustand zu gelangen. Die verlängerte Ausatmung bringt uns an einen Punkt, an dem wir die Lungen so weit leeren, dass wir im Anschluss wieder voll einatmen können. Das gilt ja letztlich für jeden „Behälter“: Erst wenn dieser komplett leer ist, kann ich ihn wieder in Gänze füllen.

Welche Bereiche unseres Körpers oder auch Alltags können wir mit einer bewussten Atmung beeinflussen?    

Da stellt sich immer die Frage, was man beeinflussen möchte. Es existieren ja in der Tat ganz unterschiedliche Themen – etwa Sport und Bewegung, Ernährung, Blutzuckerwerte oder auch die Verdauung. Jeder darf für sich eruieren, was er aktuell benötigt. Vielleicht ist da jemand, der in der Nacht nur wenig Schlaf gefunden hat, nun bereits auf einen langen Arbeitstag zurückblickt, fix und fertig ist, sich aber am Abend noch auf eine bestimmte Aufgabe konzentrieren muss. Als Breathworktrainer kann ich dieser Person etwas an die Hand geben, damit sie sich nochmal für eine Stunde pushen und da durchzuboxen kann. Genauso existieren aber auch entsprechende Übungen, um im Anschluss wieder zur Ruhe zu kommen und den Tag ausklingen zu lassen. Wichtig ist: Mit jeder neuen Situation und Emotion verändert sich auch unsere Atmung. Ist diese sehr schnell und brustlastig, empfehle ich drei bis vier Atemzüge – Luft durch die Nase einatmen und dann aktiv aus dem Mund herausfallen lassen – um anschließend wieder in die reine Nasenatmung zu gelangen. Dabei findet ein physisches Loslassen statt. Wir sprechen hier von zwei bis drei Minuten, die sich jeder im Alltag nehmen kann.

Wie hast Du es in der Tiefe des Meeres gelernt, Dich bewusst vom Atem tragen zu lassen?

Da ich beim Apnoetauchen keinen Zugriff auf Luft habe, muss ich mit dem auskommen, was ich in diesem Augenblick fühle. Was gerade präsent ist. Das ist ein zentrales Thema für mich. Sich mental mit einer bestimmten Situation auseinanderzusetzen, diese anzunehmen und sich zu sagen: „Es ist in Ordnung. Jetzt ist es nunmal so.“ Wenn der Körper uns signalisiert, dass wir an Grenzen stoßen, sind wir tatsächlich nicht einmal bei der Hälfte unseres Limits angelangt. Da geht noch einiges mehr. Diese Erkenntnis war für mich ein riesiger Schritt! All das, was sich gerade in dir sträubt, hat nichts mit deiner wirklichen körperlichen Grenze zu tun. Durch das Tauchen hat sich mir einst eine völlig neue Welt eröffnet – die dort gemachten Erfahrungen transferiere ich bis heute fortwährend in meinen Alltag. Die Atmung gibt mir dabei immer wieder die Möglichkeit, bei mir zu sein …               

… und limitierende Glaubenssätze abzulegen?

Im Hamsterrad unserer schnelllebigen Welt herrscht oftmals die Auffassung, dass wir jederzeit abhängig von anderen sind. Dass wir unsere eigene Welt, so wie wir sie uns wünschen, nicht erschaffen dürfen. Ich treffe immer wieder auf Menschen, die im Alter resümieren, dass sie bei bestimmten Entscheidungen in ihrem Leben eben „nicht anders konnten.“ Wer sich aber der Konsequenzen bewusst ist, kann immer auch anders. Je stärker wir bei uns selbst sind, desto eher realisieren wir, was uns gut tut. Und was eben nicht. Das möchte ich auch den Menschen vermitteln, die ich in meiner Rolle als Atemtrainer begleite. Damit sie eigene Strategien und Techniken finden, um Stress abbauen und konzentrierter durchs Leben gehen zu können. Von diesen Menschen höre ich später immer wieder, wie verändert sie mit gewissen Situationen umgehen und wie viele Dinge sie klarer sehen. Natürlich kostet das jederzeit Energie und Kraft – doch auch ein großer, schwerer Stein rollt irgendwann von alleine, wurde er erst einmal in Bewegung gebracht.

Inwiefern hast Du durch das Apnoetauchen gelernt, auch außerhalb des Wassers Verantwortung in die Hände anderer abzugeben?

Früher dachte ich oft, dass sämtliche Herausforderungen auch im Alleingang zu bewältigen sind. Ein Fehler! Es ist wichtig, anderen Menschen Vertrauen zu schenken, denn sobald ich mit einem Gegenüber in Verbindung trete, entsteht ein Austausch. Viele Dinge können so viel besser werden, wenn ich sie teile. Wenn ich mir Unterstützung hole. Weshalb also so lange warten, bis es zu spät ist? Bis man ernsthaft krank ist oder gar nicht mehr arbeiten kann? Nicht wenige Menschen fürchten, dass sie ihr Umfeld damit belasten, wenn sie um Hilfe bitten. Anderen wiederum fällt es schwer, Kontrolle abzugeben und Unterstützung zuzulassen. Ich selbst bin lieber der Typ, der Hilfe anbietet – das ist letztlich eine Persönlichkeitsfrage. Das Andersmachen der anderen anzunehmen und zu akzeptieren, ist ein Prozess. Da kommt auch wieder die Atmung ins Spiel: Lasse ich diese fließen, können neue Emotionen aufkommen. Emotionen, die sich weiterentwickeln, wenn ich mich auf sie einlasse.

Wie hilfreich kann beim Durchatmen im Alltag ein Perspektivwechsel sein, um eigene körperliche Impulse und Emotionen zu beobachten?

Das ist total wichtig! Hier setze ich auf die mentale Technik der zweiten Person, mit der wir uns von dem entkoppeln, was ist. Man betrachtet sich somit selbst von außen, als sei man sein bester Buddy. Das gibt uns die Möglichkeit, verändert auf bestimmte Situationen zu schauen. Meist sehen wir uns nur von innen und befinden uns dabei im Reaktionsmodus. Durch das Switchen aber kommen wir ins Agieren, was einen großen Unterschied ausmacht. Dieses Aussteigen muss nicht immer funktionieren – das gilt im Übrigen für sämtliche Übungen, Techniken und Strategien. Wenn es bei zehn Versuchen einmal funktioniert, ist das großartig. Zudem muss dieser Perspektivwechsel nicht zwangsläufig in eskalierenden Situationen stattfinden. Wir können uns auch bei der täglichen Arbeit von außen betrachten: Wie ist meine Sitzhaltung am Schreibtisch? Habe ich heute schon eine Pause an der frischen Luft eingelegt? Jeder Mensch weiß, was ihm gut tut und was er braucht. Alles, was wir entgegen eingefahrener Gewohnheiten tun, verdeutlicht, dass wir lernen.            

Wie fällt das Feedback der Menschen aus, die Du im Bereich Atmung und mentale Gesundheit berätst?

Wer sich an mich wendet, möchte etwas für sich verändern. Ich erinnere mich zum Beispiel an einen erfolgreichen Geschäftsmann, der stressbedingt über Bluthochdruck klagte. Wenige Tage nach einer Atemsession erfuhr ich von ihm, dass er seit langer Zeit mal wieder zwei Nächte komplett durchschlafen konnte. Dann gibt es Teilnehmende, die es schaffen, mit dem Rauchen aufzuhören. Andere wiederum möchten an mentalen Themen arbeiten. Sie alle finden wieder zu sich selbst, wenn sie sich auf individuelle Atemübungen und den Prozess der Selbsterfahrung einlassen. Hier passt erneut das Bild mit dem großen Stein: Wenn dieser erstmal ins Rollen gerät, macht es richtig Spaß! Und auch ich lerne täglich dazu, etwa mit Blick auf meine Emotionen. Widerständen, die aufkommen, begegne ich heute mit Ruhe und Gelassenheit. Denn wichtig ist allein der jetzige Moment: Wer immer nur daran denkt, was war, oder sich andersherum ausnahmslos fragt, was die Zukunft bringen mag, verpasst diesen Moment.

Freiatmen: Beruf und Alltag meistern

Der Freediver Timo Niessner zeigt in seinem Buch „Freiatmen“ erprobte Techniken und praktische Übungen, um endlich wieder richtig durchzuatmen, einen klaren Kopf zu bekommen, die eigene innere Kraft zu entfalten und so mit voller Power Beruf und Alltag zu meistern – auch in stürmischer See. Mit seinem Wissen gelingt es, selbst in stressigen Momenten gelassen zu bleiben, neue Routinen zu etablieren und motiviert an den eigenen Zielen zu arbeiten. Die Atmung ist für ihn das Werkzeug, um seine körperliche und mentale Gesundheit zu stärken.

restorative-breathing.org

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