Robert Koch gegen Max von Pettenkofer – es war das Wissenschaftsduell im ausgehenden 19. Jahrhundert. Am Beginn des 21. Jahrhunderts scheint sich in Deutschland ein neues Wissenschaftsduell anzubahnen.
Ausgehend vom Gangesdelta breiteten sich Choleraepidemien im 19. Jahrhundert bis nach Europa aus. Ob Mann oder Frau, Kind oder Greis, Tagelöhner oder Großkapitalist – niemand blieb von der Cholera verschont. In aller Regel trat sie plötzlich auf und führte zum raschen Tod. Vorher traten ekelerregende Symptome wie Erbrechen und starker Durchfall auf. Dazu ein Gestank, der für die Mitmenschen kaum auszuhalten war. Mediziner versuchten die Krankheit zu verstehen, waren aber zunächst orientierungslos. Doch rasch wurde klar: Je dreckiger und unhygienischer die Lebensverhältnisse, umso höher die Sterblichkeitsrate. Die Slums der Großstädte waren am meisten betroffen. Letztlich sahen viele in der Umweltverschmutzung die Ursache Nummer 1 für die Cholera.
In Deutschland vertrat diesen Standpunkt mit unerbittlicher Leidenschaft Max von Pettenkofer (1818 - 1901). Zwar leugnete er nicht einen spezifischen Erreger, hielt aber Umweltbedingungen wie Boden- und Grundwasserbeschaffenheit für wichtiger. Umgekehrt sah das Robert Koch (1843 - 1910). Maßgeblich war für ihn ein Erreger der von Mensch zu Mensch übertragen werden konnte. Nach dem von Pettenkofer‘schen Diktum war eine direkte Übertragung von Mensch zu Mensch unmöglich, sondern der Erreger musste erst einen Reifungsprozess im Boden durchlaufen haben, bevor ein Mensch infiziert werden konnte. Diese Theorie entwickelte er 1854, als die Cholera in München auftrat und auch er selbst infiziert wurde. Auf seine Initiative wurde das Trinkwassersystem erneuert und weitere Choleraepidemien traten in seiner Heimatstadt nicht mehr auf.
Koch sah es anders. Den Nachweis für seine Theorie erbrachte er 1883 in Kalkutta, als er das Bakterium im Darminhalt obduzierter Choleraopfer unter dem Lichtmikroskop erkennen konnte. Bei anderen Obduzierten war dies nicht der Fall, wohl aber im Trinkwasser der jeweiligen Epidemiegebiete, verursacht durch Fäkalien bei völlig desolater Kanalisation.
Max von Pettenkofer zeigte sich unbeeindruckt, schluckte mit Cholerabakterien verseuchtes Wasser und beeindruckte seine Mitmenschen. Denn er erkrankte nicht. Heute wissen wir: Nur 15 % der Infektionen verlaufen symptomatisch. Wahrscheinlich gehörte Pettenkofer zu den 85 % asymptomatischen Fällen. Nach seiner Entdeckung in Kalkutta traf Koch 1884 in München von Pettenkofer zu einem persönlichen Gespräch. Ein Zauberkreis der argumentativen Vernunft hat sich offensichtlich nicht abgespielt. Max von Pettenkofer blieb seinem Diktum treu und nannte die Bakterienforschung Robert Koch's abwertend „höhere Pilzfängerei". Es folgten jahrelange Kämpfe, bis sich schließlich herauskristallisierte, dass Robert Koch Recht hatte. Zu einem Duell gehörten zu dieser Zeit auch Waffen, in diesem Fall eine Pistole. Damit erschoss Pettenkofer nicht Koch, sondern sich selbst. Sein von Ehrgeiz zerfressenes Ego hielt die Niederlage im Alter von 83 Jahren nicht mehr aus.
Robert Koch gegen Max von Pettenkofer
Es war das Wissenschaftsduell im ausgehenden 19. Jahrhundert. Am Beginn des 21. Jahrhunderts scheint sich in Deutschland ein neues Wissenschaftsduell anzubahnen. Aus der Cholera ist COVID-19 geworden, aus Max von Pettenkofer der Mikrobiologe Sucharit Bhakdi (*1946), aus Robert Koch der Virologe Christian Drosten (*1972). Eingebettet in einen Diskurs, der zu einem allmählichen Spaltungsprozess der Gesellschaft führen könnte. Beide Protagonisten haben sowohl leidenschaftliche Anhänger als auch erbitterte Feinde. Beide sind international renommierte Wissenschaftler, beide vertreten Ansichten, die kaum zu vereinbaren sind. Der eine (Drosten) weist daraufhin, dass seine Vorschläge zur Coronakrise 100.000 Menschen das Leben gerettet haben (Tagesspiegel vom 29.05.2020), der andere (Bhakdi) behauptet in seinem Buch „Corona Fehlalarm?“ (Goldegg Verlag 2020), dass die Maßnahmen zur Bekämpfung der Coronakrise mehr Tote verursachen, als das Virus selber. Drosten ist Berater der Bundesregierung, Bhakdi gibt Ken Jebsen ein Interview, ein Journalist, der im Ruf steht, Verschwörungstheoretiker zu sein und auf YouTube den Kanal KenFM betreibt. Nach seinem Selbstverständnis und dem seiner Follower wird dort die Wahrheit jenseits der Mainstream-Medien verbreitet. Drosten verweist auf die Gefährlichkeit und Unberechenbarkeit des Virus an sich, Bhakdi auf die Wichtigkeit von Vorerkrankungen und Umweltbedingungen, beispielsweise die Luftverschmutzung Norditaliens, welches als China Europas gesehen werden könne. Drosten ist Mitunterzeichner eines offenen Briefes an die New York Times (07.05.2020) in dem ein stärkeres Vorgehen gegen Falschinformationen zur COVID-19-Pandemie gefordert wurde. Bhakdi schrieb einen offenen Brief an die Bundeskanzlerin, worin er „drakonische Maßnahmen, die die Grundrechte der Menschen auf so umfassende Weise einschränken“, massiv kritisierte (26.03.2020). Einen begründeten Hinweis für die Gefährlichkeit des neuen Virus sieht er nicht. Fast wie bei Pettenkofer und Koch. Konträr ist Konträr. Ob es so bleibt?
Für Koch war das Bakterium maßgeblich, für Pettenkofer die Umweltbedingungen. Doch Pettenkofer lag nicht komplett daneben und meistens soll die Wahrheit in der Mitte liegen, wenn sie auch hier deutlich zu Koch verschoben war, der als Erster den Bazillus beschrieb und ihn Vibrio cholerae nannte. Zwar entdeckte Drosten das SARS-Virus mit, muss aber nicht in allen Fragen der Coronakrise die richtigen Antworten geben. So sieht er das auch selbst. Und Bhakdi muss nicht in allem Unrecht haben. Drosten die Ikone der Aufklärung? Bhakdi der mikrobiologische Fürst der Verschwörungstheoretiker? So sehen sich das einige zurecht. In diesem Wettbewerb zwischen (scheinbarer?) Bagatellisierung und (scheinbarer?) Dramatisierung wird die Wahrheit wahrscheinlich auch irgendwo in der Mitte liegen.
Zu oft stehen sich, auch in der Wissenschaft, zwei Lager unversöhnlich gegenüber. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis Psychotherapeuten akzeptieren konnten, dass bei psychischen Erkrankungen auch Genetik und Biologie eine Rolle spielen. Ebenso hat es Jahrzehnte gedauert, bis eingefleischte biologische Psychiater akzeptieren konnten, dass auch Soziologie und Biographie eine Rolle bei psychischen Erkrankungen spielen. Nur zwei Beispiele.
Nicht nur die Demokratie, auch die Wissenschaft sollte konträre Meinungen aushalten. Auch ist noch zu viel im Fluss. Per definitionem braucht es einfach Zeit bis bspw. die Langzeitfolgen von COVID-19 genauer beurteilt werden können. In den Debatten der Coronakrise wäre es kein weiser Entschluss, sich vorschnell und ungeduldig auf eine Sichtweise zu fixieren.
Vielleicht sollten in der Zwischenzeit Bhakdi und Drosten ein persönliches Gespräch führen. Da dürfte man nicht allzu viel erwarten. Auszuschließen wäre eine Versachlichung des Diskurses nicht. Es muss auch nicht so desaströs enden wie bei Koch und Pettenkofer. Und dass derjenige sich erschießt, dem ein Fehler nachgewiesen wird, ist im postheroischen 21. Jahrhundert eher nicht zu erwarten.