Während seine Verwendung in der Schönheitsbranche ohne Frage am populärsten ist, deckt der Wirkstoff Botulinumtoxin (umgangssprachlich: Botox) auch im medizinischen Bereich gleich mehrere Behandlungsfelder ab. Bei unter anderem spastischen Lähmungen, nach Schlaganfällen und auch zur Linderung von Migräne entfaltet das Protein seine verspannungslösende Wirkung. Dr. med. Frank Brandhoff vom Epilepsiezentrum Kleinwachau beleuchtet die positiven Effekte verschiedener Einsatzgebiete.
Fällt der Begriff Botox, ist in den meisten Fällen schnell die Verbindung zur Behandlung von Falten hergestellt: Injiziert in die Gesichtsmuskeln, glättet die Substanz etwa die Haut rund um die Augen, auf der Stirn, seitlich des Nasenrückens oder auch ungewollte Grübchen am Kinn. Das Nervengift verhindert den Austausch von Signalen zwischen Nervenendigung und Muskel – letzterer sorgt mittels Kontraktion für die Bildung von Falten, wird aber eben durch die Spritzengabe entspannt. Diese Tatsache zeigt, dass Botulinumtoxin noch mehr kann: Unter anderem kommt es in der Medizin auch bei chronischem Kopfschmerz und Migräne, Zähneknirschen oder Hyperhidrose, also einem übermäßigen Schwitzen, zum Einsatz. Dr. med. Frank Brandhoff ist Leiter der Erwachsenenstation des Epilepsiezentrums Kleinwachau im sächsischen Radeberg. Als behandelnder Arzt in der dortigen Botulinumtoxin-Ambulanz verdeutlicht er die Wirkung von Botox an den Nervenendigungen am Muskel: „Es dockt dort an, bewirkt, dass der Botenstoff an die Muskeln, sich zu bewegen, nicht mehr abgegeben werden kann. Weil es nicht im Muskel, sondern in den Nerven wirkt, kann man mit Botulinumtoxin nicht nur die Muskelaktivität verändern, sondern auch zum Beispiel die Aktivität von Speicheldrüsen oder Schweißdrüsen reduzieren.”
Im Epilepsiezentrum Kleinwachau wird Botulinumtoxin in der Hauptsache bei spastischen Lähmungen, etwa nach einem Schlaganfall oder einer anderen Verletzung des Gehirns, eingesetzt. So kann der Wirkstoff dabei helfen, spastisch verspannte Hände oder Füße zu lockern und diese Gliedmaßen wieder in eine bessere Haltung zu bringen. In manchen Fällen kommt es durch die Entspannung der behandelten Bereiche auch zu einer besseren Funktion benachbarter Muskeln, was sich beispielsweise positiv auf die Funktion des Oberarms auswirken kann. „Bessern können wir in diesem Fall die Spastik, das heißt, die ständige Daueranspannung der gelähmten Muskulatur”, so Dr. Frank Brandhoff. „Ich kann den Muskeln zwar keine gesunde Aktivität zurückgeben, aber ich kann Schmerzen lindern und Fehlstellungen bessern, das Laufen trotz spastischer Lähmung erleichtern.”
Einsatz bei Dystonie, halbseitiger Gesichtsspastik und Parkinson
Erstmals tauchte Botulinumtoxin Anfang des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit einer bedrohlichen Lebensmittelvergiftung auf, in deren Zuge Kinder, Kranke und Ältere an Brechdurchfall sogar sterben konnten. Die Ursache war damals unter anderem der Verzehr von nicht fachgerecht gelagerten, verdorbenen Fleischwaren. Dr. Frank Brandhoff: „1896 konnte der belgische Arzt Emile Pierre Marie van Ermengem erstmals in einer Wurst, an der sich wieder eine ganze Gruppe tödlich vergiftet hatte, ein Bakterium nachweisen und nannte es Lateinisch Bacillus butulinus, zu Deutsch Wurst-Bakterium. Es sonderte einen Stoff ab, eine komplexe Eiweißstruktur, die wir heute als Botulinumtoxin kennen. Es lähmt jeden Muskel. Bei der Vergiftung im ganzen Körper bis zur Atemlähmung. Medizinisch lähmt es jeden Muskel, in den man es spritzt.” Die Annahme, dass Botulinumtoxin zur Behandlung von hyperaktiven Muskeln eingesetzt werden kann, rührt aus weiteren Forschungen Mitte des 20. Jahrhunderts – im Jahr 1989 schließlich erhielt das Präparat die Zulassung als Medikament zur Behandlung von Augenzittern und Lidkrampf. Von dieser Anwendung im Augenbereich war der Weg zur Erkenntnis, dass Botulinumtoxin auch eine faltenglättende Wirkung besitzt, schließlich nicht mehr weit. Allerdings erhielt Botox erst im Jahr 2002 die offizielle Zulassung für ästhetische Zwecke.
Zurück ins Epilepsiezentrum Kleinwachau, wo Dr. Frank Brandhoff von weiteren Anwendungsgebieten berichtet: „Ich setze Botulinumtoxin auch bei Dystonie ein. Dystonien sind unwillkürliche Muskelbewegungen wie zum Beispiel beim Schreibkrampf oder dem bei Profimusikern gefürchteten Musikerkrampf.” Zudem habe man sehr gute Erfahrungen beim sogenannten Schiefhals mit Kopfzittern gemacht, einer Fehlstellung, bei der Betroffene ihren Kopf nur seitwärts geneigt halten können. „Diese Erkrankungen entstehen durch fehlerhafte Verknüpfungen der Nervenzellen im Gehirn, wodurch es zu dieser krampfartigen Fehlsteuerung der Muskulatur kommen kann. Ebenso bei der halbseitigen Gesichtsspastik und bei Gesichts-Dystonien hilft Botulinumtoxin sehr gut.” Gespritzt in den Nasen-, Augen- oder Mundmuskel sei dank Botulinumtoxin hier eine große Linderung zu erreichen. Hinzu komme die erfolgreiche Versorgung von Parkinsonpatienten, deren Speichelfluss im Zuge der Erkrankung mitunter nicht mehr vollends kontrollierbar ist: „Der Mensch produziert bis zu zwei Liter Speichel am Tag, und das kann schon sehr unangenehm sein, wenn man als an Parkinson Erkrankter nicht in der Lage ist, den Speichel auch hinunterzuschlucken. Botox spritzt man dann in die Speicheldrüse, die sich vor dem Ohr befindet, oft mit sehr gutem Erfolg.”
Botox bei Migräne: Entdeckung des schmerzlindernden Effekts
Eine starke Anspannung der Muskeln, und zwar in den Bereichen Gesicht, Hals, Nacken und Schulter, ereignet sich auch bei Migräneanfällen. Betroffene klagen über starke Kopfschmerzen, nicht selten in Kombination mit Übelkeit sowie einer Geräusch- und Lichtempfindlichkeit. In Deutschland wurde Botulinumtoxin im Jahr 2011 vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zur Behandlung der chronischen Migräne zugelassen und hat sich mittlerweile in der Anwendung etabliert. Vor allem bei Erwachsenen, die auf gängige Medikamente nicht ansprechen oder diese nicht vertragen, stellt die Botoxtherapie eine erfolgsversprechende Alternative dar. Wie bei der kosmetischen Behandlung muss allerdings auch die Migräne-Prophylaxe etwa alle drei Monate aufgefrischt werden – mittels feinster Kanülen wird der Wirkstoff an Stirn, Nacken und Schultern injiziert. Die Entdeckung des schmerzlindernden Effekts sei ein Zufall gewesen, so Dr. Frank Brandhoff: „Menschen mit Migräne, die sich Botox gegen Falten spritzen ließen, berichteten, dass ihre Migräne zurückgegangen war. Wie genau Botox hier hilft, weiß man noch nicht vollständig, aber durch das Spritzen in die entsprechenden Muskelbereiche kann Migräne spürbar gemildert werden.”
Auch wenn die Botoxbehandlung – sei es aus kosmetischen oder eben gesundheitlichen Gründen – in den meisten Fällen problemlos durchzuführen ist, sollten mögliche Nebenwirkungen jederzeit in Betracht gezogen werden. So können durch die Injektion an den Einstichstellen Rötungen, Schwellungen und auch blaue Flecken (Hämatome) auftreten. Auch berichten Patienten oftmals von einem leicht brennenden Schmerz. Bei einer zu hohen Dosierung treten mitunter Schluckstörungen, Mundtrockenheit, Kopfschmerzen, Übelkeit oder auch eine Einschränkung der Mimik auf. Zudem ist von einer Migränebehandlung mit Botulinumtoxin abzuraten, wenn beim Patienten chronische Atembeschwerden, akute Infekte oder Entzündungen an den vorgesehenen Einstichstellen vorliegen. Mit Blick auf den Botoxeinsatz in der Schönheitsindustrie gibt Dr. Frank Brandhoff vom Epilepsiezentrum Kleinwachau zu bedenken: „Der Umgang mit dem persönlichen Altern gehört zu den Herausforderungen, denen sich jeder von uns irgendwann stellen muss. Allerdings konnte gezeigt werden, dass Menschen mit durch Botulinumtoxin gelähmter Stirn die Gefühle anderer Menschen nicht mehr so gut lesen und verstehen konnten. Das Lesen von Gefühlen der Anderen geschieht offenbar dadurch, dass wir die unbewusste Mimik unseres Gegenübers unbewusst nachmachen und erst auf diese Art auch nachfühlen können, was unser Gegenüber gerade fühlt. Mit einer gelähmten Stirn geht das deutlich schlechter. Das fände ich schade.”
Das Epilepsiezentrum Kleinwachau
Unter dem Motto „Moderne Medizin und Menschlichkeit” hat sich die Fachklinik für Neurologie auf Epilepsien und verwandte Anfallserkrankungen spezialisiert. Auf fünf Stationen setzt sich das Team für die Gesundheit und Lebensqualität der Patienten ein. Neueste Diagnostikverfahren und modernste Behandlungsansätze ermöglichen individuelle Therapien, bei denen die Patienten sowie die Angehörigen stets einbezogen werden.