Wenn ein Mensch aufgrund einer Tumorerkrankung oder unfallbedingt Teile oder ganze Organe seines Gesichts einbüßt, bedeutet dies für ihn nicht nur optisch eine große Zäsur im Leben. Auch die soziale Interaktion kann plötzlich eine große Herausforderung darstellen. Das Verfahren der Epithetik widmet sich dem ästhetischen Ausgleich solcher Körperdefekte und unterstützt Betroffene mit künstlich angefertigten Gesichtsteilen beim Schritt zurück in den Alltag. Dazu braucht es jede Menge Kunstfertigkeit, Detailtreue und Empathie, wie die Epithetikerin Dr. Fabienne Wille unterstreicht.
Wer der Entstehungsgeschichte der Epithetik, also dem ästhetischen Ausgleich von optischen Beeinträchtigungen durch körperfremdes Material, nachspüren möchte, muss weit zurückblicken: Bereits aus der Zeit der alten Ägypter stammen Hinweise auf die Anwendung dieser Technik; in der medizinischen Literatur findet die Anfertigung von Gesichtsprothesen erstmals im 16. Jahrhundert Erwähnung. Ein weiterer Entwicklungssprung ist auf das 18. Jahrhundert zurückzuführen, als der Pariser Zahnarzt Nicolas Dubois de Chémant (1753–1824) unter anderem Kinn- und Nasen-Epithesen aus Porzellan anfertigte. „Anfang des 20. Jahrhunderts kam für die sichtbar ästhetische Wiederherstellung des Körperbildes dann erstmals Gelatine zum Einsatz“, weiß Dr. Fabienne Wille zu berichten. Die Zahnärztin und -technikern ist im familiengeführten Institut für Epithesen Anaplastology Care im nordrhein-westfälischen Iserlohn tätig. Als zertifizierte Epithetikerin gewährt sie einen Einblick in die weitere Materialentwicklung: „Ende des Zweiten Weltkrieges erfolgte die Anfertigung von Epithesen erstmals aus PMMA-Kunststoff, ein Material, aus dem auch heute noch Prothesen hergestellt werden – allerdings mit weniger Polymer-Anteilen. Inzwischen verwenden wir vor allem verschiedene Silikone, mit denen sich auch die besten Ergebnisse erzielen lassen.”
Tatsächlich waren es bis Mitte des 20. Jahrhunderts größtenteils Kriegsverletzungen, die eine Versorgung von Gesichtsdefekten notwendig machten. Heute sind es neben Fehlbildungen oder Unfällen in erster Linie Tumorerkrankungen, bei denen eine Epithesen-Anfertigung zum Einsatz kommt. Der Verlust eines Gesichtsbereichs – etwa ein Teil der Nase oder ein Ohr – wird dabei sehr häufig durch eine Krebserkrankung verursacht. Aufgabe der Epithetik und der chirurgischen Prothetik ist es dann, diesen Verlust auszugleichen. Auch Fabienne Wille verdeutlicht: „Vor allem suchen uns Tumorpatienten mit Defekten im Kopf- und Halsbereich auf, die versorgt werden müssen. Hinzu kommen aber auch junge Patienten mit Anomalien, wie zum Beispiel dem Franceschetti-Syndrom. Die betroffenen Kinder besitzen beispielsweise keine angeborenen Ohrmuscheln, was sich ebenfalls mittels Epithese rekonstruieren lässt.”
Im stetigen Dialog das bestmögliche Ergebnis erzielen
Bei jeder Anfertigung – sei es ein künstliches Ohr, ein Teil der Nase oder Lippe oder auch eine Orbita-Epithese – handelt es sich um ein individuelles Kunstwerk aus Silikon. So gilt es auch verschiedene Hauttöne und kleinste Äderchen bei den einzelnen Arbeitsschritten zu bedenken. Müssen die Patienten daher im Zuge der Herstellung zwischenzeitlich zum Anpassen erscheinen? „Im Idealfall treffen diese bereits vor einem operativen Eingriff bei uns ein, oder wir besuchen sie im Krankenhaus, um entsprechende Möglichkeiten aufzuzeigen und auf diese Weise etwaige Ängste zu nehmen”, berichtet Fabienne Wille. In Situationen großer seelischer Belastung sei dies bereits eine große Hilfe, so die Expertin. Ist der Eingriff von der Krankenkasse genehmigt, erfolgt eine Abformung der später zu kaschierenden Stelle. Auch ist es für die Epithetikerin eine große Hilfe, wenn sie passende Fotos vom Patienten erhält, um möglichst detailgetreu arbeiten zu können. Handelt es sich etwa um einen ästhetischen Ausgleich an der Nase, wird dieser Bereich für einen weiteren Termin mit Wachs modelliert und in der Folge anprobiert. Änderungen werden dabei so lange im Dialog mit dem Patienten vorgenommen, bis alle Beteiligten mit dem Modell zufrieden sind. Nach der Herstellung einer Negativform erfolgt schließlich die Überführung in Silikon.
Während sich manche Epithesen durch ihre Form dem Körperdefekt anpassen, müssen andere wiederum mechanisch angebracht werden: „Für die Befestigung stehen verschiedene Verfahren zur Auswahl”, so Fabienne Wille. „Studien belegen, dass die meisten Patienten mit einer magnetischen Fixierung am zufriedensten sind. Es bieten sich aber auch spezielle Hautkleber an.” Hinzu komme die Möglichkeit, das körperfremde Material mit Stegen mittels in den Knochen inserierten Implantaten am Körper zu verankern. In die Prozesse der Anfertigung und Fixierung einer Epithese sind immer auch die Kollegen anderer Fachbereiche mit eingebunden, meist sind das Mund-Kiefer-Gesichtschirurgen sowie Hals-Nasen-Ohren-, Augen- und Zahnärzte. Bei Anaplastology Care in Iserlohn setzt man sehr gerne auf diese interdisziplinäre Zusammenarbeit, um letztlich so ein bestmögliches Ergebnis zu erzielen. Und dieses muss keineswegs ausschließlich ästhetischer Natur sein: „Durch die Gestaltung eines neuen Ohrs wird zum Beispiel – bei intaktem Gehörgang – das Richtungshören wieder ermöglicht”, weiß die Medizinerin, „eine Gaumen-Obturator-Epithese wiederum erleichtert die Lautbildung beim Sprechen.”
„Die Patienten trauen sich wieder unter Menschen”
Neben diesen medizinischen Errungenschaften ist ein weiterer Aspekt der Epithetik unbedingt hervorzuheben: Die Wiederherstellung des Körperbildes gibt Betroffenen ein großes Stück Lebensqualität zurück, gilt doch schließlich das Gesicht als Visitenkarte eines jeden Menschen. Die daraus resultierende Reintegration in das soziale Umfeld der Betroffenen wirkt sich positiv auf die jeweilige Psyche aus, ein Gefühl der Vollkommenheit stellt sich ein. Dessen ist man sich auch beim Team von Anaplastology Care bewusst, weshalb die dortige Zusammenarbeit mit den behandelnden Kliniken in der Regel ein Patienten-Vorgespräch mit einschließt, um so dem Bedürfnis nach Aufklärung vor dem Eingriff entgegenzukommen. Denn die Aussicht auf eine ästhetische Wiederherstellung des Körpers, so weiß Fabienne Wille aus der täglichen Arbeit, bestärkt viele Menschen darin, nach einem langen Leidensweg den Blick wieder nach vorn zu richten: „Empathie ist hier ein entscheidender Faktor. Die meisten Patienten erlangen später dank der Epithese ihre Sicherheit im Alltag zurück und trauen sich wieder unter Menschen.”
Die Produkte, die von Anaplastology Care hergestellt werden, decken eine große Bandbreite an Versorgungsmöglichkeiten ab: So bietet das Institut im Bereich der Augenprothetik individuell angepasste, biokompatible Kunststoff- oder Silikonaugen an – im Gegensatz zum klassischen Glasauge sind diese bruchsicher. Nasenepithesen hingegen geben Patienten ihr altes Ich weitestgehend zurück. Und auch beim unfallbedingten Verlust von Zehen und Fingerendgliedern setzt das Team auf ein spezielles Fertigungsverfahren, um eine gute und ästhetische Lösung anbieten und manch Fingerfertigkeit wieder möglich machen zu können. Zu dieser epithetischen Versorgung zählt immer auch die ausführliche Beratung der Betroffenen sowie der Angehörigen, um wichtige Informationen zu Material, Befestigung und Integration in den Alltag zu übermitteln. Fabienne Wille: „Es ist möglich, mit der Epithese zu duschen oder im Salzwasser zu schwimmen. Da können wir den Menschen entsprechende Sorgen nehmen. Auch geben wir ihnen ein kleines Kosmetikbürstchen zur regelmäßigen Pflege mit. Da Silikon mit der Zeit zudem seine Farbe verliert, frischen wir diese später wieder passend auf.” Diese umfangreiche Betreuung schenkt all jenen, die einen Organverlust zu erleiden hatten, Kraft für die Zeit der Rehabilitation und das wertvolle Gefühl, am gemeinschaftlichen Leben wieder vollends teilhaben zu können.
Anaplastology Care
Das Online-Institut für innovative Epithesen wird von der Geschäftsinhaberin Inge Wille gemeinsam mit den beiden Töchtern Dr. Fabienne Wille (Zahnärztin und -technikerin und zertifizierte Epithetikerin) und Maike Wille (Augenoptikerin und Hörgerteakustikmeisterin) betrieben. Gemeinsam mit seinem Team befasst sich das Trio mit der künstlerischen und wissenschaftlich fundierten Wiederherstellung des Körperbildes durch Herstellung eines geeigneten Ersatzes. Verlorene oder fehlende Gesichts- und Körperteile werden zur psychosozialen Reintegration betroffener Patienten werkstofflich ergänzt.