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Junge Frau in Rückenansicht schaut sich selbst, wie in einem Spiegelkabinett, vierfach ins Gesicht. Sie scheint verwirrt und traurig

Wir sind viele

Zerfasert in gleich mehrere Ichs: Eine dissoziative Identitätsstörung entwickelt sich oft bereits im Kindesalter. Bei 80 bis 90 Prozent der Personen, die dieses Störungsbild aufweisen, handelt es sich um Frauen. Foto: © Photographee.eu - stock.adobe.com
Portratitfoto des Artikel-Autors Robert Targan
Von ROBERT TARGAN (Freier Texter, Autor & Redakteur)
7 Min.Lesezeit

Sie sprechen von sich in der Wir-Form, tragen gleich mehrere Persönlichkeiten in sich und haben in der Gesellschaft oft mit dem Problem der Glaubwürdigkeit zu kämpfen: Menschen mit einer dissoziativen Identitätsstörung. Diese Ausbildung einer multiplen Persönlichkeitsstruktur fußt in vielen Fällen auf traumatischen Erlebnissen in frühester Kindheit – emotionale, sexuelle oder auch rituelle Gewalt. Die Psychologische Psychotherapeutin und Traumatherapeutin Michaela Huber forscht seit über 35 Jahren auf diesem Gebiet und begleitet jene Menschen, die ihre Erlebnisse auf „mehrere Schultern“ verteilen.

Schätzungsweise 1,1 bis 1,5 Prozent der Allgemeinbevölkerung leiden hierzulande an einer dissoziativen Identitätsstörung (DIS). Welche Ursachen lassen sich da benennen?

Solch eine Spaltung entsteht durch massiven Stress in den ersten Lebensjahren eines Menschen. Eine zusammenhängende, alltagstaugliche Persönlichkeit kann sich so erst gar nicht entwickeln. Das ist nicht etwa mit dem Bild einer Vase zu vergleichen, die auf den Boden fällt und zerspringt – vielmehr gab es bereits zuvor keine Einheit. Bei einer dissoziativen Identitätsstörung ist es so, dass Betroffene „zustandsabhängig“ bleiben. Das heißt, sie sind in verschiedenen Zuständen und Umgebungen stets adaptiert an das, was gerade „außen“ geschieht. Oder eben an das, was von ihnen gerade eindringend ins Bewusstsein gerät. Es existiert keine zusammenhängende Identität.

Lassen sich da verschiedene Abstufungen ausmachen?

Es sind zwei Formen der DIS zu nennen: die vollständige dissoziative Identitätsspaltung und die partielle. Letztere ist verbreiteter, da geraten Menschen in intensive, traumanahe Zustände, die vollkommen die Kontrolle über den Körper übernehmen. Im Falle der vollständigen DIS treten hingegen unterschiedliche, alltagstaugliche Ichs auf – was noch viel gravierender ist.

Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit einer Fehldiagnose?

Suchen die Betroffenen eine fachspezifische Diagnostik auf, blicken sie meist schon auf eine Odyssee durch das Gesundheitswesen zurück. Da wurden dann Befunde wie Depressions- und Angstdiagnosen, Zwänge oder Sucht ermittelt. Sehr unterschiedliche Bereiche, in denen die Menschen auffällig geworden sind oder Not leiden. Eine DIS zu diagnostizieren ist allerdings auch nicht einfach – weist ein Patient etwa „nur“ unterschiedliche Gefühlszustände auf, kann es passieren, dass ein unerfahrener Kollege die dissoziative Identitätsstörung überdiagnostiziert.

Wie steht es um das Problem der Glaubwürdigkeit? Den Vorwurf, da würde jemand diese multiple Persönlichkeit nur vorspielen?

Gerade im Falle von Beziehungen stellen wir oft fest, dass sich die Partnerin oder der Partner nicht bewusst waren, dass beim Gegenüber eine DIS vorliegt. Bei rund 80 bis 90 Prozent der Personen, die dieses Störungsbild aufweisen, handelt es sich um Frauen. In Paargesprächen sehen wir dann, dass Partner nicht selten dachten, ihre Frau oder Freundin sei extrem vergesslich oder habe „mal wieder eine neue Laune“, die sie an den Tag lege. Dabei ist es tatsächlich möglich, dass sich diese Teilidentitäten so sehr abwechseln, dass dazwischen Amnesien entstehen können, also ein regelrechter Gedächtnisbruch existiert. Mal vergessen diese Menschen, was sie am Morgen getan haben. Mal sogar, wer ihr Partner ist.

Wie ist es Personen aus dem Umfeld möglich, erste Anzeichen zu erkennen?

Da kann ich ein Beispiel nennen: Eine Krankenschwester wurde immer wieder darauf angesprochen, dass sie ihre Übergabeprotokolle nicht selbst erstellt haben könne, waren diese doch an zwei aufeinanderfolgenden Tagen mit gänzlich unterschiedlichen Handschriften ausgefüllt worden. Gerade in solch einem Fall der expliziten Veränderung der Handschrift ist festzuhalten, dass eine DIS oft erst im Erwachsenenalter erkannt wird. Denn bei Kindern sehen wir viele Entwicklungen erst einmal als vorübergehend an, gehen vielleicht von Tagträumen aus.

Was braucht es da, um eben doch frühzeitig Signale ausmachen zu können?

Es sind aufmerksame Vertrauenslehrer und Erzieherinnen gefragt, die bemerken, dass sich Kinder in Zuständen befinden, in denen sie gelernte Dinge plötzlich nicht mehr können. Wenn eine Zwölfjährige unvermittelt auf dem Boden herumrutscht und den Daumen in den Mund nimmt, gehen wir im ersten Reflex davon aus, dass sie spielt. Beobachten wir es aber genauer und bemerken: Dieses Kind kann gar nicht mehr die Zwölfjährige sein und verhält sich definitiv wie eine Dreijährige, hält den Stift beim Malen anders und versteht bestimmte Fremdwörter oder Ironie nicht mehr – dann kann die Ahnung entstehen, einem „alternativen Ich“ gegenüberzustehen. Es braucht allerdings eine gute und längerfristige Beobachtung, um dieses Störungsbild diagnostizieren zu können.

Kommen wir zum Kern des Phänomens: Bei einer DIS handelt es sich um eine komplexe Bewältigungsstrategie.

Dissoziation ist generell ein Anpassungsmechanismus. Im Gehirn werden dabei Dinge „auseinander geschoben“, damit das Selbst, ohne dass die betroffene Person zerfällt, einigermaßen mit einer Extremsituation fertig wird. Eine Amnesie ist die häufigste Form der Dissoziation, weitere Phänomene sind „Out-of-body“-Erlebnisse oder das nicht Erkennen vertrauter Umgebungen. Die DIS aber ist eine tiefergehende, sogenannte strukturelle Dissoziation. Bereits im Aufbau einer Persönlichkeit wachsen verschiedene Teile
im Hirn nicht zusammen. Der Mensch nimmt sich selbst als unberechenbar wahr, versucht gleichzeitig aber, diesen Wesenszug zu verdecken, um damit zurechtzukommen ...

… und traumatische Erlebnisse sozusagen „auf mehrere Schultern“ zu verteilen?

Ja, die Ursache ist oft, dass bestimmte Geschehnisse unaushaltbar grauenhaft waren. Die betroffene Person war vielleicht ganz auf sich allein gestellt, hat als Kind todesnahe Zustände erlebt – körperlich oder seelisch. „Jetzt sterbe ich!“ und „Jetzt ist alles aus!“ sind da typische Gedanken, wieder und immer wieder. Sichere Bindungen fielen weg, die Eltern waren möglicherweise selbst traumatisiert oder gar an der Quälerei beteiligt. Diese Grundbedingungen gestalten sich für ein Kind so dermaßen schwer, dass es beginnt, alle möglichen Selbstzustände voneinander zu separieren und zu versuchen, sich auch den schrecklichsten Situationen jederzeit anzupassen.  

Die weiteren Folgen?

Das Kind kann nicht über sich nachdenken, nicht reflektieren: „Wie war ich gestern, wie war ich vorgestern, wie will ich eigentlich sein?“ Weil es sich ständig an eine chaotische Umwelt anpassen muss, in der grauenvolle Dinge passieren. Blitzschnell muss es sich von etwas Schönem auf etwas extrem Schmerzvolles oder Überraschendes umstellen – seien es sexualisierte Gewalt, extreme seelische Quälereien oder massive körperliche Übergriffe. Die Betroffenen haben extrem viel Belastung erlebt. Gleichzeitig gehen wir in der Forschung davon aus, dass diese Fähigkeit, so stark zu dissoziieren, eine besondere neuronale Flexibilität benötigt. Das geht häufig mit einer ausgeprägten Intelligenz und Kreativität einher. Umso schwieriger für uns Therapeuten mitunter, dieses angepasste Sein zu entdecken.

Woher „nehmen“ Menschen mit einer DIS die verschiedenen Persönlichkeiten?

Wie wir alle suchen sich Menschen mit einer dissoziativen Identität auch positive Vorbilder: Sie nehmen beschützende Figuren auf, Beobachtergestalten. Die meisten Teilidentitäten aber beruhen auf den Zuständen, in denen die Betroffenen sich einst befanden. Plötzlich wird bei einem Erwachsenen wieder das bedrohte, fünfjährige Kind „nach vorne katapultiert“, das mir dann in der Therapie wimmernd gegenübersitzt und davon überzeugt ist, dass es immer noch in der Zeit von damals lebt und gleich wieder gequält wird. Auch täterimitierende Anteile sind auszumachen – für Außenstehende durchaus bizarre Situationen. Ich habe bereits fünfjährige Kinder erlebt, die unvermittelt mit der düstereren Stimme eines quälenden Erwachsenen sprachen.

Wie gestaltet sich für Sie als Traumatherapeutin die Herausforderung, das Vertrauen gleich mehrerer Persönlichkeiten gewinnen zu müssen …

Es ist sehr wichtig, dass Menschen mit einer DIS merken, dass wir ihnen sorgsam zuhören, egal, wie scheinbar widersprüchlich sie sich äußern. Dass wir nicht sofort mit Erklärungen oder therapeutischen Strategien antworten, sondern ein Gefühl dafür bekommen möchten, wie sich diese Menschen selbst wahrnehmen. Erkennen sie diese Offenheit, zeigen sie sich uns nach und nach in ihren unterschiedlichen Teilpersönlichkeiten. Unsere Arbeit besteht darin, dabei zu helfen, die verbindenden Brücken im Inneren der Persönlichkeit zu bauen. Letztlich kommt es darauf an, dass die Betroffenen lernen, sich gegenseitig zuzuhören und zu verständigen. Sich innerlich selbst zu versorgen. Ein langer, aber erfolgversprechender Weg.

Was wünschen Sie sich von Medien und Politik im Umgang mit dem Störungsbild?

Es ist wichtig, dass wir immer wieder die Öffentlichkeit darüber aufklären, dass manche Menschen eben gespalten, aber eben nicht verrückt sind. Dass es sich um eine Anpassungsleistung handelt und diese Menschen nun ihre liebe Mühe haben, diese unterschiedlichen Teilpersönlichkeiten zu händeln. Unsere mühsameAufgabe ist es aktuell, ausreichend Behandlungsplätze und Therapiegenehmigungen zu erhalten. Es gibt nun mal diese Menschen, doch fehlt es immer noch an umfassender Unterstützung. Aus diesem Grunde habe ich mit Kolleginnen und Kollegen eine Bundesarbeitsgemeinschaft für bedarfsgerechte Nothilfe (BAGbN) ins Leben gerufen. Sehr viele Menschen in psychischen Notlagen erhalten keine ausreichende Hilfe – generell, aber vor allem jene Patienten, die unter besonders gravierenden Störungsbildern leiden. Denen möchten wir Mut machen, sich ein gutes Helfernetz aufzubauen, ihre Bedarfe durchzusetzen und ihnen den Rücken stärken.

 

michaela-huber.com

facebook.com/BAGfuerbedarfsgerechteNothilfe

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