Mal ist es die Anonymität der Großstadt, mal das Fehlen sozialer Kontakte oder auch der Verlust eines geliebten Partners: Die Gründe für Einsamkeit sind vielschichtig. Alle Betroffenen vereint, dass sie sich unfreiwillig in diesem Zustand wiederfinden – und dass sie einem Risiko für körperliche und psychische Erkrankungen ausgesetzt sind. Der Psychiater und Psychotherapeut Prof. Dr. Martin Schäfer kennt Warnsignale und Symptome der chronischen Einsamkeit, aber auch Wege heraus aus der Isolation.
Während manche Menschen bewusst Phasen des Alleinseins wählen, finden sich andere wiederum in einem anhaltenden Zustand der Einsamkeit wieder. Können Sie hier markante Unterschiede nennen?
Prof. Martin Schäfer: Das Alleinsein kann durchaus eine positive Erfahrung sein: Man findet in dieser Zeit vielleicht zu sich selbst und lernt seine Stärken und Schwächen besser kennen. Ein Beispiel: Wer sich dazu entschließt, nach Kanada zu ziehen, um dort ein Haus in den Weiten des Landes zu kaufen, entscheidet sich ja bewusst für diese Lebensform. Da lebt der nächste Nachbar mitunter kilometerweit weg. Die Situation des Alleinseins ist in der Regel eine freiwillige Entscheidung, die sich jederzeit beenden lässt. Einsamkeit hingegen ist ein Zustand, den Betroffene nicht selbst gewählt haben. Der als negatives Gefühl und Belastung definiert ist.
Wer also selbstgewählt alleine Zeit verbringt, empfindet dies in der Regel als förderlich …
… und erfährt diese Situation idealerweise als stressreduzierend. Es dient obendrein der Persönlichkeitsentwicklung. Anderen Menschen wiederum fällt es sehr schwer, alleine zu sein, etwa mit Blick auf ihr Beziehungsleben. Bei einer sogenannten abhängigen Persönlichkeit benötigen Betroffene stets jemanden an ihrer Seite; oftmals ist das ein Gegenüber, dem sie sich unterordnen und im Alltag die Verantwortung übertragen. Dabei laufen sie Gefahr, ihre Selbstständigkeit aufzugeben. Es hat also immer Vorteile, wenn man auch in der Gemeinschaft, in der Gruppe oder einer Partnerschaft Zeit für sich findet. Indem man ein eigenständiger Mensch ist, statt ausschließlich abhängig zu agieren.
Alarmierend wird es, wenn sich eine dauerhafte Einsamkeit einstellt: Anhand welcher Merkmale zeichnet sich hier eine problematische Entwicklung ab?
Einsamkeit ist in erster Linie ein negatives, aber vor allem individuell wahrgenommenes Gefühl. Von außen betrachtet ist das nur bedingt zu beurteilen. Wenn sich jemand gänzlich von seinem sozialen Umfeld zurückzieht, lässt sich zwar objektiv sagen: „Dieser Mensch hat sich komplett isoliert – kaum verwunderlich, dass er sich einsam oder gestresst fühlt.“ Es existieren aber ganz unterschiedliche Zustände, in denen sich jemand als extrem belastet und einsam wahrnimmt – Zustände, die sich in diesem Sinne nicht objektivieren lassen.
Welche gesundheitlichen Risiken existieren bei chronischer Einsamkeit?
Da bestehen Parallelen zum Burn-out: Einsamkeit ist als Risikozustand zu verstehen, der auf der körperlichen Ebene biologische Folgen bewirken kann. Tatsächlich ist Einsamkeit mit der Gesundheitsgefahr, der Raucher ausgesetzt sind, vergleichbar. Auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind möglich, ebenso Demenzen, da das Gehirn bei anhaltender Einsamkeit schneller altert. Es kommt zur vermehrten Ausschüttung von Stresshormonen wie Cortisol, das Immunsystem verändert sich und der Blutdruck steigt an. Infekte lassen sich dann auf Dauer schwerer bekämpfen, und chronische Entzündungsprozesse im Körper greifen Herz und Gefäße an.
Und auf der psychischen Ebene?
Wer kaum Kontakte pflegt, die Wohnung selten verlässt und sich nur wenig bewegt, riskiert es, Schlafstörungen, Ängste, depressive Veränderungen oder gar Suizidgedanken zu entwickeln. Hinzu kommt das „Henne-Ei-Problem“: Was war zuerst da, die Einsamkeit oder psychische Erkrankungen? Meist führen letztere zur sozialen Isolation – depressive Patienten ohne Antrieb, Interessen oder Selbstwertgefühl finden sich in eben solch einer Einsamkeit wieder. Ähnlich ist es bei einer Angststörung, da Betroffene all das vermeiden, was ihnen Panik und Beklemmung bereitet. Auch bei Suchterkrankungen und Psychosen ist das Einsamkeitsrisiko sehr hoch. Vor allem bei Depressionen kommt es übrigens vor, dass sich Betroffene einsam fühlen, obwohl sie umgeben sind von Menschen, die ihnen helfen möchten.
Wie kommt es zu solch einer falschen Einschätzung der eigenen Situation?
Das ist fast ausschließlich nur dann möglich, wenn – bedingt durch eine psychische Erkrankung – eine Fehlwahrnehmung der Realität vorliegt. Hier besteht ein großes Risiko, da das Umfeld diesen Umstand meist nicht realisiert. Es ist immer ein Warnzeichen, wenn sich ein Mensch zurückzieht! Für Außenstehende ist es dann schwer zu beurteilen, was der Betroffene braucht: Benötigt er lediglich ein wenig Zeit für sich und Abstand oder befindet er sich längst in einer ausweglosen Sackgassen-Situation?
Laut Statistiken existieren in Deutschland rund 16,7 Millionen Singlehaushalte, was 41 Prozent der insgesamt 40,9 Millionen Haushalte hierzulande ausmacht. Trägt diese Entwicklung zu einer „urbanen Einsamkeit“ bei?
Sie kann dazu beitragen, etwa dann, wenn ältere Menschen durch den Verlust eines Partners oder aufgrund fehlender Verwandtschaft einen Single-Haushalt führen müssen oder wegen körperlicher Einschränkungen die Wohnung nur noch selten verlassen. Allerdings handelt es sich bei der genannten Entwicklung heute meist um einen freiwilligen Zustand, der nicht zwangsläufig als Belastung wahrgenommen wird. Generell bietet die Großstadt einfache Rückzugsmöglichkeiten – es ist denkbar, in einem 60-Parteien-Haushalt zu leben, ohne den direkten Nachbarn zu kennen. Gleichzeitig besteht dadurch aber die Gefahr, immer mehr an sozialer Unterstützung zu verlieren.
Ist es ein Irrglauben, dass Einsamkeit in erster Linie ein Problem älterer Menschen ist? Wo sehen Sie bei jüngeren Generationen die Gründe für Einsamkeit?
Mit zunehmendem Alter gewöhnen sich Menschen an einen gewissen Abbau sozialer Strukturen, sie können damit besser umgehen. Für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen aber ist es extrem wichtig, fortlaufend Kontakte zu pflegen, um so den sozialen Umgang voneinander und miteinander zu lernen. Das war im Zuge der Coronapandemie und der anhaltenden Isolation ein großes Problem. Ein anderes Thema ist die zunehmende Nutzung sozialer Medien in jungen Jahren: Zwar kennen wir hier noch nicht die spezifischen Folgen, doch würde ich es so einschätzen, dass diese Angebote tendenziell einsamer und unzufriedener machen. Mit digitalen Pseudo-Kontakten lässt sich Einsamkeit auf Dauer nicht eindämmen. Durch die sozialen Medien neigen die Menschen vermehrt dazu, zuhause zu bleiben, statt sich persönlich zu treffen.
Welche Unterstützungsmöglichkeiten bestehen, um dem Zustand der Einsamkeit entgegenzuwirken?
Da dürfen wir zum einen nicht die Kirchen und Sozialträger vergessen, die sich in einzelnen Stadtteilen zum Beispiel mit 60+-Treffpunkten engagieren. Hilfreich sind auch freiwillige Fahrangebote, die Menschen mit eingeschränkter Mobilität von A nach B befördern. Das sind die Unterstützungsmöglichkeiten für die ältere Generation. Mit Blick auf die Kinder und Jugendlichen sollte man meines Erachtens die Vereinslandschaft wieder verstärkt bewerben und aufleben lassen. Häufig müssen Jugendzentren aus finanziellen Gründen schließen, sodass auch diese Anlaufstellen wegfallen. Wichtig ist immer der Blick auf die Ursachen von Einsamkeit: Denn sind diese in einer psychischen Erkrankung begründet, braucht es eine professionelle Analyse, um Persönlichkeitseigenschaften, die Lebenserfahrung und den familiären Rahmen zu beleuchten. Lässt sich die psychische Gesundheit einschätzen, können individuelle Maßnahmen ergriffen werden.
Wie sieht es im umgekehrten Fall aus? Welche Chancen und Vorteile genießen Menschen, die ihre sozialen Kontakte pflegen?
Wir sehen, dass Menschen, die auch im Alter gesund und fit sind, meist auch die sozial aktiveren Charaktere sind. Denn genau diese Aktivität führt dazu, dass das Gehirn trainiert wird und der Mensch wacher und aufmerksamer bleibt. Soziale Kommunikation, unterwegs sein, neue Eindrücke sammeln – all das wirkt sich förderlich und schützend auf die geistige und körperliche Gesundheit aus.