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„Ein unkritischer Einsatz im Kindesalter kann Nebenwirkungen verursachen”

„Ein unkritischer Einsatz im Kindesalter kann Nebenwirkungen verursachen”

Ein äußerst bedenklicher TikTok-Trend: Für ein schnelleres Einschlafen reichen Eltern ihren Kindern Fruchtgummis mit Melatonin. Foto: © elenarui - stock.adobe.com
Portratitfoto des Artikel-Autors Robert Targan
Von ROBERT TARGAN (Freier Texter, Autor & Redakteur)
5 Min.Lesezeit

Das körpereigene Hormon Melatonin wird in der Dunkelheit aktiviert und steuert unseren Schlaf-Wach-Rhythmus. Verschiedene Umweltfaktoren beeinflussen jedoch die innere Uhr des Menschen – dazu zählen etwa Licht, Lärm oder auch die Nahrungsaufnahme. Gerade im Kindesalter sind Schlafstörungen keine Seltenheit: Vermehrt greifen Eltern zu frei verkäuflichen Nahrungsergänzungsmitteln mit dem Wirkstoff Melatonin. Experten warnen vor dieser Entwicklung und pochen vielmehr auf eine altersangemessene Schlafhygiene. 

Ein Trend, der zuletzt im sozialen Netzwerk TikTok für Aufsehen gesorgt hat, bereitet Kinderärzten nicht wenig Sorge: Eltern filmen sich dabei, während sie in eine Tüte mit Gummibärchen auch Melatonin-Varianten der süßen Nascherei mischen. Diese reichen sie anschließend ihrem Kind. Versehen werden diese kurzen Clips mit Titeln wie „So bringst du dein Kind in unter 5 Minuten zum Einschlafen!“ Tatsächlich, so ist von der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM) zu erfahren, sind Schlafstörungen im Kindesalter nicht selten. Sollten notwendige Hinweise zu einer dem Alter angemessenen Schlafhygiene nicht zur Lösung des Problems führen, könne eine psychotherapeutische Unterstützung hilfreich sein. Unter Umständen käme auch eine medikamentöse Therapie infrage. Aber: „Ein unkritischer Einsatz von Medikamenten im Kindesalter kann nicht nur Nebenwirkungen verursachen, sondern auch den Beginn einer sinnvolleren Therapie verzögern“, so die DGSM. Im Falle von Melatonin sei etwa häufig von auftretenden Kopfschmerzen die Rede.

Das körpereigene Hormon steuert den Tag-Nacht-Rhythmus. Gebildet wird es in der Zirbeldrüse des Gehirns (Epiphyse). Das Alleinstellungsmerkmal dieser Drüse ist die pulsatile Melatoninausschüttung ins Gehirn und in den Körperkreislauf; beides wird am Abend mit Eintritt der Dunkelheit aktiviert. Geringe Mengen Melatonin werden aber auch beispielsweise von der Netzhaut des Auges und vom Darm gebildet. Frei verkäufliche Nahrungsergänzungsmittel, die den Wirkstoff enthalten, sind in der Drogerie oder online erhältlich; sie kommen in Form von Tabletten, Sprays, Tees, Tropfen oder eben auch Gummibärchen daher. Sie alle vereint das Versprechen des schnellen Einschlafens ohne nächtliche Störungen – aber auch die Tatsache, dass das Bundesamt für Risikobewertung (BfR) bereits seit 1995 vor dem Einsatz von Melatonin als Nahrungsergänzungsmittel im mehreren Stellungnahmen warnt. Auch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) kommt zu der Erkenntnis, dass es sich bei Melatonin um ein Arzneimittel handele. Der Kinderarzt Prof. Dr. Ekkehart Paditz, Mitglied der DGSM, stellt klar: „Wer sein Kind beim Verdacht auf eine Schlafstörung nicht beim Kinderarzt vorstellt, geht das Risiko ein, dass gar nicht erst abgeklärt wird, ob überhaupt eine bedeutsame Schlafstörung vorliegt oder ob es sich um organische Ursachen handeln könnte.“ Hier nennt der Mediziner Beispiele wie schlafbezogene Atmungsstörungen mit Obstruktion der oberen Atemwege infolge vergrößerter Rachenmandeln (bei Kleinkindern) oder auch das Restless-Legs-Syndrom.

Verzögerung des Pubertätseintritts durch Melatonin

Schlafstörungen, die bei Kindern in erster Linie aufgrund inadäquater Einschlafrituale oder fehlender Grenzsetzung seitens der Eltern begünstigt werden, sollten laut der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin ohnehin nicht mit Melatonin therapiert werden. Vielmehr raten die Experten in diesen Fällen dazu, eine günstigere Schlafvorbereitung zu etablieren, was beispielsweise Tätigkeiten am Smartphone oder Tablet ab dem frühen Abend ausschließt. „Falls das nichts nützt“, so Ekkehart Paditz, „sollten immer erst einmal Hinweise zur Schlafhygiene
gegeben werden. Sofern erforderlich, können daran auch psychotherapeutische Hilfen anschließen. Erst wenn auch diese keine Wirkung zeigen und organisch bedingte Schlafstörungen unwahrscheinlich ­erscheinen, sollte eine gezielte Behandlung mit einem zugelassenen Arzneimittel wie Melatonin in Betracht gezogen werden.“ Stress in der Schule, im Kindergarten, mit Freunden oder innerhalb der Familie könne laut Paditz jedoch nicht mit Melatonin abgebaut werden.

Gleichzeitig verweist der Kinderarzt neben den bereits erwähnten Kopfschmerzen auf weitere mögliche Begleiterscheinungen: „Aufgrund tierexperimenteller Daten kann nicht ausgeschlossen werden, dass  langfristige Melatoninbehandlungen zur Verzögerung des Pubertätseintritts führen könnten. Aus den USA ist zudem aktuell über mehrere Todesfälle bei Säuglingen und Kleinkindern im zeitlichen Zusammenhang mit mehrfachen Melatoningaben berichtet worden.“

Das Verabreichen besagter Produkte ohne vorheriger Absprache mit einem Arzt sieht Ekkehart Paditz somit kritisch, sei doch bislang zu wenig über die Abbauwege von Melatonin bei Säuglingen und kleinen Kindern bekannt: „Da die Eliminationshalbwertszeit bei Säuglingen mehr als 20-fach länger ist als bei jungen Erwachsenen, kann nicht ausgeschlossen werden, dass es bei wiederholten Gaben zur Akkumulation mit steigenden Melatonin-Konzentrationen im Blut kommt.“ Ob zusätzlich potenziell toxische Abbauprodukte bei Säuglingen eine Rolle spielen könnten, sei bisher nicht ausreichend bekannt.

Schlaffördernde Maßnahmen stehen im Vordergrund

Statt frei käufliche Mittel wie die auf TikTok angepriesenen Fruchtgummis zu wählen, raten Experten den Eltern von Kindern und Jugendlichen mit Schlafstörungen zu Melatonin, das per Rezept verschrieben wird. Ein entsprechendes Medikament ist hierzulande für Kinder ab zwei Jahren erhältlich. Krankenkassen übernehmen hier allerdings nur in zwei speziellen Fällen die Kosten, nämlich bei Kindern mit einer Autismus-Spektrums-Störung sowie im Falle von Minderjährigen, die am so genannten Smith-Magenis-Syndrom erkrankt sind. Bei erstgenannten Patienten kommt es laut der DGSM häufig zu einer abnormalen zirkadianen Rhythmizität der Melatoninfreisetzung – gleichzeitig werden häufig sehr niedrige physiologische Melatoninwerte gemessen. Mit Blick auf eine Studie* weiß die Fachgesellschaft zu berichten, dass hier „Melatonin zu einer verlängerten Schlafdauer bei verkürzter Einschlafzeit führte. Unterschiede beim nächtlichen Erwachen bestanden nicht. Es traten keine bis minimale Nebenwirkungen auf.“ Beim seltenen Smith-Magenis-Syndrom hingegen können eine gewisse Tagesschläfrigkeit sowie nächtliches und frühes Erwachen auftreten. „Eine Besserung der Symptomatik“, so die DGSM, „wurde durch Melatoninblockade mittels Betablocker am Tage und Melatoningabe zur Nacht beobachtet.“

Bleibt festzuhalten, dass die abendliche Gabe möglichst geringer Dosierungen wie zum Beispiel zwischen 0,25 und 0,5 Milligramm Melatonin bei Kindern und Jugendlichen mit chronischer Einschlafstörung zu einer verkürzten Einschlafzeit und meist auch einer längeren Gesamtschlafdauer führen kann. Gleiches gilt für junge Patienten, die an einem krankhaft verschobenen Schlafrhythmus oder einer neuropsychiatrischen Erkrankung leiden. Im Vordergrund sollten jedoch stets schlafhygienische und -edukative Maßnahmen stehen: Dazu zählt unter anderem ein ruhiges, abgedunkeltes und angenehm temperiertes Zimmer. Vor dem Zubettgehen sollte zudem auf koffeinhaltige Getränke verzichtet werden; auch größere Mahlzeiten gilt es kurz vor der Nachtruhe zu vermeiden. Lebhafte Spiele und Bildschirmaktivitäten (TV, Smartphone, PC) wirken ebenfalls alles andere als schlaffördernd. Wer mit der Hilfe des Kinderarztes den Ursachen für Schlafprobleme auf den Grund geht, hat die Möglichkeit, gemeinsam mit dem Nachwuchs effektive Einschlafroutinen zu entwickeln. Denn laut Ekkehart Paditz spielen auch Stress, Sorgen und Ängste beim Einschlafen eine Rolle – da könne es bereits erfolgsversprechend sein, wenn Eltern ihren Kindern am Bett beruhigend über den Kopf streicheln, ihnen etwas vorlesen oder auch ein Schlaflied vorsingen.

 


Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin e.V.

Die Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin e.V. (DGSM) vertritt als Mitglied der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlich Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) die Schlafforschung und Schlafmedizin in Deutschland. Die derzeit über 2.000 Mitglieder der DGSM kommen aus nahezu allen medizinischen Fachbereichen, insbesondere aus der Inneren Medizin, Psychologie, Psychiatrie und Neurologie, Pädiatrie, HNO-Heilkunde und Allgemeinmedizin. Es besteht eine enge Kooperation mit der Zahnmedizin, Kieferorthopädie und Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie.

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