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„Ein Nicht-Mitmachen war grundsätzlich sanktionierbar“

„Ein Nicht-Mitmachen war grundsätzlich sanktionierbar“

Der Staat wollte Medaillen sehen, weshalb der Druck auf Sportler, Ärzte und Trainer in der ehemaligen DDR immens war. Foto: © butenkow; adragan - stock.adobe.com
Portratitfoto des Artikel-Autors Robert Targan
Von ROBERT TARGAN (Freier Texter, Autor & Redakteur)
5 Min.Lesezeit

Es war ein Netzwerk aus Funktionären, Ärzten und Trainern, das im DDR-Sport systematisches Doping ermöglichte: Bis zu 15.000 meist minderjährige Leistungssportler erhielten ohne Aufklärung oder Einverständnis der Eltern „unterstützende Mittel”, die in der Folge mitunter für körperliche, psychische und soziale Schäden sorgten. Bei der späteren Aufarbeitung stand meist die Frage nach dem Mitwissen der damaligen Athleten im Vordergrund. Eine neue Studie des Zentrums deutsche Sportgeschichte Berlin-Brandenburg richtet nun jedoch den Fokus auf das manipulative Handeln der Verantwortlichen. Die beteiligte Historikerin Dr. Jutta Braun vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschungen in Potsdam berichtet.

Was war der Anlass für die neue Studie zu den Strukturen des DDR-Staatsdopings? Welche Fragen standen dabei im Mittelpunkt?

Dr. Jutta Braun: Umfangreiche Untersuchungen zum damaligen Dopingsystem liegen mittlerweile mehr als zwanzig Jahre zurück. Danach wurde kaum substanzielle Forschung betrieben. Am Zentrum deutsche Sportgeschichte Berlin-Brandenburg hatten wir es uns daher zum Ziel gesetzt, Akten der Dopingprozesse, die ab den späten 1990er-Jahren stattgefunden haben, heranzuziehen. Diese Dokumente sind deswegen so interessant, da sie in einer zeitlichen Nähe zur DDR-Zeit entstanden sind. Sie beleuchten die einstigen Abläufe aus einer anderen Perspektive: Waren es zuvor in erster Linie Stasi-Akten, die unmittelbar aus dem Sportapparat stammten, findet sich in den Dopingprozess-Akten nun eine Spiegelung der Geschehnisse aus retrospektiver Sicht. Nämlich aus der Sicht von Betroffenen, Zeugen und eben der Beschuldigten.

Lange Zeit galt der Fokus bei der Aufarbeitung den betroffenen Sportlern: Wie wichtig aber ist es, eben auch das Geflecht aus Funktionären, Ärzten und Trainern zu beleuchten?

Eine Voraussetzung für Entschädigungen, basierend auf dem mittlerweile ausgelaufenen Dopingopfer-Hilfegesetz, lautete, dass man unwissentlich oder gegen den eigenen Willen gedopt wurde. Das machte die Frage nach dem Mitwissen der damaligen DDR-Sportler so zentral. Neben diesem juristischen Blickwinkel muss die historische Sicht jedoch erweitert werden: Da geht es um so grundsätzliche Aspekte wie Freiwilligkeit in einer Diktatur oder Handlungsspielräume Einzelner. Darüber hinaus ist auch die Pers­pektive der sogenannten Täter mit einzubeziehen. Denn die Frage danach, wie so etwas möglich sein konnte, ist doch immer eine Frage, die sich an das System richtet. Und an die Verantwortungsträger: Was war denen klar? Weshalb haben sie an einem Verfahren mitgewirkt, das offenkundig so vielen Menschen geschadet hat?

Sie haben entsprechende Gerichtsakten gesichtet: Auf welche Aussagen der betroffenen Ärzte und Trainer sind Sie da teils gestoßen?     

Aus heutiger Sicht muss man klar festhalten, dass die Verantwortung hin und her geschoben wurde. Teile der bis zur Jahrtausendwende verhörten Ärzteschaft sagten, dass die Dosierung eben dem Training angepasst war. Trainer wiederum pochten darauf, dass die verabreichten Mittel von den Ärzten verschrieben wurden. Man darf nicht vergessen, dass auch die Mediziner in das Staatssystem der ehemaligen DDR eingebunden waren. Ein Problem, dass sowohl die Betroffenen, als auch die Verantwortungsträger hatten: Der Staat begegnete den Menschen auf ganz unterschiedlichen Ebenen, also auch im Bildungssystem oder als Arbeitgeber. Ein Fehlverhalten oder Nicht-Mitmachen war somit grundsätzlich sanktionierbar. So wurden beispielsweise Sportler mit der Aussage unter Druck gesetzt, dass sie später kein Abitur erlangen könnten, sollten sie versuchen, aus dem System auszuscheiden. Gleichzeitig hatten die Verantwortungsträger die begründete Sorge, ihre Stellung und ihre Privilegien zu verlieren. Auch wenn sie dies rückblickend nicht ihrer Verantwortung oder Schuld enthebt.

An den einstigen Sportschulen wurde die Wettbewerbsfähigkeit des DDR-Spitzensports systematisch gefördert: Viele der Sportler waren noch minderjährig …

… denn man beginnt den Leistungssport natürlich nicht als gesetzter 35-Jähriger, sondern betritt diese Welt in der Regel als Heranwachsender. Wird man in solch ein System hineinerzogen – hat man also viele Jahre seines Lebens investiert – ist es später umso schwieriger, einen Ausweg zu finden. Man darf nicht vergessen: In dieser Diktatur herrschte keine offene Diskussion, es gab kaum Informationsmöglichkeiten. Auch in der Bundesrepublik ist zu dieser Zeit gedopt worden, auch dort hatte das Sportsystem daran einen gewissen Anteil. Diese Vorgänge waren aber eben nicht staatlich angeordnet und es gab einen öffentlichen, auch medialen Diskurs.     

In den Gerichtsakten der Dopingprozesse hingegen finden sich Aussagen wie „Wenn du dich nicht spritzen lässt, dann hast du vier Jahre umsonst trainiert!”

Mit solch manipulativen Aussagen konnte man nicht nur minderjährige Athleten erreichen, sondern durchaus auch gefestigtere Personen: Wer möchte schon rückwirkend vier Jahre seines Lebens einbüßen? Mit Blick auf unsere Forschung möchte ich aber herausstellen, dass damals sehr wohl systemintern, aber eben nur in Kreisen der Verantwortungsträger, kritische Stimmen laut wurden. Es gab durchaus Bedenken im System und Ärzte, die ein Staatsdoping nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren konnten, da sie mögliche Folgeschäden sahen. Doch wer mahnte und warnte, wurde innerhalb der Strukturen nicht gehört. Was bislang ebenfalls viel zu wenig beleuchtet wurde, ist das sogenannte „wilde Doping”: Ärzte, Trainer und manchmal ganze Clubs und Sportvereinigungen wie Dynamo sind sehr häufig willkürlich von den festgelegten Anwendungen und Konzeptionen abgewichen. In der Regel mit einer Erhöhung der Dosis. Auch darin zeigt sich dieser allumfassende Druck – der Staat wollte Goldmedaillen sehen.

Es wurde beispielsweise das Dopingmittel Oral-Turinabol verabreicht – ein künstliches männliches Sexualhormon. Hatten die damaligen Heranwachsenden überhaupt die Reife, dieses Vorgehen zu hinterfragen?

Es hat die ganze Bandbreite gegeben. Was dabei jedoch nicht zu vergessen ist: Junge Menschen sind risikobereit, sie entwickeln Ehrgeiz. Wägen vielleicht sogar zwischen etwaigen Nebenwirkungen und einer Medaille ab. Heute wissen wir: Es gab Athleten, die wussten, was man ihnen verabreichte. Die freiwillig ein gewisses Risiko eingegangen sind. Aber da waren eben auch die Fälle, in denen Personen leistungsfördernde Substanzen unwissentlich untergejubelt worden sind – über das Essen oder die Getränke zum Beispiel, wie es im Skisport der Fall war. Als besonders verwerflich empfinde ich die Tatsache, dass den Kindern untersagt wurde, mit ihren Eltern über diese Vorgänge zu sprechen.  

Was drohte bei einer Verweigerung der Medikamente? Einfach mit dem Sport aufhören war in dem Sinne ja kaum möglich …

Es wurde den jungen Menschen zumindest suggeriert, dass sie Probleme im späteren Leben bekommen könnten, etwa wie erwähnt mit Blick auf die schulische Laufbahn oder einen späteren Studienplatz. Eine entsetzliche Drucksituation: Entweder muss ich weiterhin die verabreichten Tabletten nehmen, oder ich kann mein künftiges Leben nicht so gestalten, wie ich es möchte. Das schließt übrigens nicht nur spätere gesundheitliche Probleme, sondern auch das Selbstbild mit ein: Gerade im Falle von jungen Frauen, bei denen durch das genannte Mittel Oral-Turinabol eine Vermännlichung des weiblichen Körpers stattfand.     

Hinzu kommen langfristige Schäden wie Herzfehler oder Lebererkrankungen. Es drängt sich aber auch die Frage auf, was der hohe Druck auf der seelischen Ebene der jungen Menschen bewirkt hat?

Der Doping-Opfer-Hilfeverein hat im Nachgang viele Geschädigte betreut und beraten. Das generelle Problem aber ist, dass dieser direkte Kausalzusammenhang zwischen dem Doping und den daraus resultierenden Langzeitfolgen heute in der Regel nicht mehr medizinisch nachzuweisen ist, da die Geschehnisse einfach zu lange zurückliegen. Auch hat sich die Hormongabe bei den Betroffenen ganz unterschiedlich geäußert – nicht alle klagten später über Beschwerden. Geschädigte berichten heute, dass ihnen von den entsprechenden Ämtern manchmal nicht das notwendige Verständnis entgegengebracht wird. Durchaus lassen sich psychische Schäden auf die Hormonpräparate zurückführen – letztlich sind sie aber doch auch eine Spätfolge dieser gesamten diktatorischen Rahmenbedingungen.          

Welche Resonanz erhalten Sie auf die aktuellen Forschungen? Wie kann nun eine differenzierte historische Einordnung des DDR-Dopingsystems gelingen?

Wir stoßen durchaus auch auf Verdrängung und eine Verklärung der Vorgänge: Man möge das Geschehene doch nun ruhen lassen. Der Sport ist in Sachen Vergangenheitsaufarbeitung einer der umstrittensten und umkämpftesten Gesellschaftsbereiche. Das liegt hier meines Erachtens auch daran, dass die ehemalige DDR eben sehr stolz auf ihre vielen Goldmedaillen bei großen Turnieren war. Diese Tatsache ruft für viele Menschen bis heute eine positive Erinnerung hervor. Das Aufdecken negativer Seiten führt da zu Abwehrreflexen. Ich finde es jedoch wichtig, dass der Kenntnisstand nicht einfach nur da ist, sondern über die Jahre auch immer wieder aktualisiert wird. Dazu gehört auch, den Behörden und Gerichten eine bessere Beurteilungsbasis zu bieten, etwa in Form von Publikationen oder Leitfäden. Hierfür führen wir als Wissenschaftler den Dialog mit entsprechenden Stellen und Arbeitsgruppen, damit aus den historischen Erkenntnissen genau die Punkte herausgefiltert werden, die für künftige Entschädigungsverfahren von Relevanz sein können.

 


Doping-Opfer-Hilfe e.V.

Der Doping-Opfer-Hilfe e.V. (DOH) ist ein gemeinnützig und ehrenamtlich betriebener Verein mit Sitz in Berlin, der den Geschädigten des organisierten Sports in Deutschland hilft, ihre oft schweren Lebenssituationen besser zu bewältigen und die Gesellschaft über die weitreichenden Folgen der Chemie im Sport aufzuklären. Der Verein informiert, berät und versucht, aktiven und ehemaligen Athleten in Notsituationen zu helfen. So unterstützt der DOH etwa bei Antragstellungen und der Kommunikation mit Behörden. Der Verein setzt sich zudem bei Politik und Sport für die Belange der Geschädigten, insbesondere für die Unterstützung der Opfer des DDR-Staatsdopings und deren zweiter Generation, ein.

zentrum-deutsche-sportgeschichte.de // no-doping.org

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