Es ist eine Frage, die viele Menschen nur zögerlich an sich heranlassen: Die Frage, ob sie nach dem eigenen Tod Organe spenden möchten. Dass diese Überlegung jedoch nicht früh genug angestellt werden kann, zeigt die Tatsache, dass hierzulande aktuell fast 10.000 Patientinnen und Patienten auf ein lebensnotwendiges Spenderorgan warten. Dr. med. Gero Frings und Prof. Dr. med. Gernot M. Kaiser, beide jeweils Chefarzt am St. Bernhard-Hospital in Kamp-Lintfort, sind Spezialisten auf dem Gebiet der Organspende. Im Gespräch mit PVS einblick verdeutlichen sie: Die deutschen Organspendezahlen sind stabil – doch in vielerlei Hinsicht ist noch Luft nach oben.
Die Organ- und Gewebespende versteht sich als gelebte Solidarität. Wo machen Sie die Hauptgründe dafür aus, dass sich die gesellschaftliche Verankerung der Thematik hierzulande nur schwer vollzieht?
Dr. med. Gero Frings: Die Beobachtung machen wir nicht nur bei der Organ- und Gewebespende. Der gesellschaftliche Altruismus hat auch in anderen Bereichen seine Grenzen, etwa bei der Blutspende. Bereiche also, in denen man aktiv werden und etwas geben muss. Immerhin: Laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ist in Deutschland eine rund 75-prozentige Zustimmung bei der Organspende zu verzeichnen. Daher würde ich auch einer fehlenden Verankerung in der Gesellschaft nicht vollends zustimmen, zumal wir über ein Transplantationsgesetz verfügen, das vom Bundestag verabschiedet wurde. Ein Bewusstsein für die Thematik ist also da – die Frage ist, wie wir dieses leben.
Prof. Dr. med. Gernot M. Kaiser: Ich sehe durchaus eine gewisse Grundproblematik, da sich der Mensch mit seinem eigenen Tod auseinandersetzen muss. Wer sich mit dem großen Bereich der postmortalen Organspende beschäftigt, muss sich zu Lebzeiten nunmal vergegenwärtigen, dass er eines Tages stirbt. Es existieren andere Gesellschaften, in denen ein Thema wie die eigene Beerdigung schon sehr früh im Leben besprochen wird – bei uns jedoch herrscht eine große Zurückhaltung, was das eigene Ableben betrifft. Ich denke, dies ist auch ein Grund dafür, weshalb sich viele Menschen damit schwer tun, einen Organspendeausweis auszufüllen.
Ein äußerst sensibles Thema also, verbunden mit vielen Emotionen! Welche Unsicherheiten und vielleicht auch Vorurteile stellen Sie darüber hinaus in der Bevölkerung fest?
GF: Wir leben tatsächlich in einer Zeit, in der Ängste und Unsicherheiten mitunter geschürt werden – gerade in den sozialen Medien reagieren Menschen eher auf negative Thesen. Wir erkennen das im Organspendeprozess manchmal an dem Punkt, an dem wir eine Todesfeststellung kommunizieren. Da herrschen bei den Angehörigen bezüglich der Diagnose „Hirntod” Unsicherheiten und Ängste. Dem wirkt eine professionelle Begleitung durch die Transplantationsbeauftragten sowie den Koordinatoren der DSO (Deutsche Stiftung Organtransplantation) entgegen. Leider konnten wir in Deutschland die Widerspruchsregelung – die Ausgangslage also, dass jeder als Organspender gilt, es sei denn, er spricht sich zu Lebzeiten dagegen aus – nicht etablieren. Wir hoffen jedoch, dass die Aufklärung im Zuge des neuen Gesetzes zur Förderung der Organspende durch weitere Mittel gestärkt wird. Dieses tritt im April 2022 in Kraft. Dann soll unter anderem auch die Ärztin bzw. der Arzt des Vertrauens beratend tätig sein und hierfür vergütet werden.
Im Jahr 2021 erfolgten 2.979 Organtransplantationen nach einer Organspende. Wie bewerten Sie diese Zahl?
GK: Die Interpretation der Anzahl von Organspendern gestaltet sich nicht leicht. Im europäischen Vergleich befinden wir uns damit im unteren Drittel. Heißt, es existieren Länder, die eine deutlich höhere Rate an Organspenden pro Einwohnerzahl verzeichnen. Da wird dann meist das klassische Beispiel Spanien genannt, wo der Wert den deutschen im Schnitt um das Dreifache übertrifft. Die genannte Zahl hat viele Aspekte: So mussten wir glücklicherweise trotz der Coronapandemie keine rückläufigen Zahlen feststellen – vor diesem Hintergrund also ein Erfolg! Nichtsdestotrotz befinden sich aktuell auf der Warteliste fast 10.000 Patientinnen und Patienten, die aufgrund fehlender Spenderorgane nicht versorgt werden können. Einige Menschen sterben sogar während der Wartezeit auf ein Organ, das zur Transplantation geeignet ist.
GF: Vorreiter wie eben Spanien oder Kroatien hatten unter COVID-19 einen enormen, schlagartigen Einbruch. Daher dürfen wir in Deutschland durchaus stolz auf unsere stabilen Zahlen sein. In vielen Krankenhäusern werden hierzulande Spenderinnen und Spender rekrutiert, zudem existieren 46 Transplantationszentren. Werte, die zeigen, dass die nachhaltigen Verbesserungen, die in den letzten Jahren angeschoben wurden, gezündet haben. Dazu zählen auch die Finanzierung und Implementierung von Transplantationsbeauftragten an jedem Krankenhaus mit Intensivstation. Fakt ist: Wir sind auch unter widrigen Umständen in der Lage, unsere Spenderzahlen stabil zu halten.
Sollte ein Verstorbener zu Lebzeiten keinen Entschluss gefasst haben, werden Angehörige in einer Trauersituation zusätzlich mit einer hoch emotionalen Entscheidung konfrontiert …
GK: Ich fasse das kurz zusammen: Die Frage nach einer Organspende kommt für die Hinterbliebenen immer am falschen Ort, zur falschen Zeit und in der falschen Situation. Das erfordert vor allem von den Primärbehandlern auf der Intensivstation jede Menge Sensibilität. Im Nachgang agieren dann die Verantwortlichen der DSO sowie die Transplantationsbeauftragten auf hochprofessioneller, einfühlsamer Ebene.
GF: Das kann ich nur unterstreichen! Die entsprechenden Schulungen hinsichtlich herausfordernder Gespräche sind deutlich besser geworden. Als Transplantationsbeauftragte sind wir verpflichtet, uns permanent aus- und weiterzubilden. Da spielen Themen wie Kommunikation und Gesprächstraining eine maßgebliche Rolle. Auch für die Situation der Hirntoddiagnostik existiert ein intensives Training mit Rollenspielen und Schauspielern. All das geschieht zur Förderung einer behutsamen, aber zielgerichteten Kommunikation.
Wie ließe sich die Aufklärungsarbeit noch weiter ausbauen?
GK: Klar ist: Je intensiver eine Person mit dem Thema in Berührung kommt, desto höher ist die Bereitschaft, einen Organspendeausweis mit sich zu tragen. Das konnten auch Studien und Umfragen zeigen.
GF: Auch ist es wichtig, immer wiederkehrende Angebote für die Beantragung des Ausweises zu formulieren. Die Menschen möchten aufgeklärt werden, allerdings ohne den berühmten erhobenen Zeigefinger. Da wünschen wir uns in der Arbeitsgemeinschaft der Transplantationsbeauftragten NRW, in der Herr Prof. Dr. Kaiser und ich organisiert sind, von der Presse eine positivere Berichterstattung. Etwa über gelungene Verläufe von Transplantationen, spektakuläre, gerne aber auch ganz normale. Berichte darüber, was es überhaupt für ein Lebensgewinn für eine Person darstellt, die etwa eine neue Niere erhalten hat. Nichts Reißerisches – einfach klare Geschichten von Menschen, die plötzlich wieder neue Lebensperspektiven erfahren.
Ein neues digitales Organspenderegister – ursprünglich geplant für März 2022 – soll den Prozess für alle Beteiligten erleichtern. Welche Vorteile sehen Sie darin?
GF: In der Arbeitsgemeinschaft der Transplantationsbeauftragten haben wir den geplanten Start zum 01. März 2022 bereits zu einem frühen Zeitpunkt als äußerst ambitioniert wahrgenommen. In Sachen Durchführung und Gesetzeslage besteht da leider noch einiges an Klärungsbedarf. Wir hoffen, für dieses Register schon bald einen neuen Zeitplan zu erhalten, denn es hält einige Vorteile bereit: Wir als abrufende Seite könnten darin direkt sehen, wer bereit ist, Organe zu spenden. Im besten Falle sollten alle Besitzer eines Spenderausweises ihre Willenserklärung auch in diesem digitalen Register fortführen. Meine Forderung lautet ohnehin, künftig den Organspendeausweis so zu realisieren, wie es aktuell beim digitalen Impfnachweis der Fall ist. Ein Nachweis, der in der Apotheke in Kombination mit dem Personalausweis digital eincodiert wird. Diese Dokumentation der Willenserklärung würde auch den Druck auf die Angehörigen reduzieren.
Sollte die Organspende nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch in der ärztlichen Ausbildung noch mehr Raum einnehmen?
GK: Es müssen sämtliche Verantwortliche mitgenommen werden – neben den Schwestern und Pflegern auf der Intensivstation daher auch all jene, die an den Beruf des Arztes herangeführt werden. Ich habe selbst viele Jahre lang an der Universität Vorträge zur Organspende in einer chirurgischen Vorlesungsrunde gehalten, was ich für sehr wichtig erachte.
GF: Die Organspende hat erfreulicherweise Einzug erhalten in die fachärztlichen Weiterbildungskataloge der Chirurgie, der inneren Medizin, der Anästhesie und der Intensivmedizin. Besonders der Vorgang der Spenderdetektion, also das Identifizieren und Melden von Spendern auf den Intensivstationen, ließe sich niederschwellig bereits in die Vorlesungen einflechten. Denn hier herrscht ein großer Bedarf: Würde dieses Erkennen und Kommunizieren täglich mit noch mehr Aufmerksamkeit geschehen, könnten wir bei der Organspende einen enormen Zuwachs verzeichnen.