Häufig zitiert und treffend auf den Punkt gebracht: Multiple Sklerose (MS), das ist die „Krankheit mit den 1000 Gesichtern“. Bei der chronischen Entzündung des Nervensystems, in deren Zuge es zur Zerstörung von Nervenstrukturen kommt, leiden Betroffene an ganz unterschiedlichen, meist in Schüben auftretenden Symptomen. So klagen manche Patientinnen und Patienten über Seh- und Gefühlsstörungen (Kribbeln in Armen und Beinen), andere über geschwächte bis gelähmte Extremitäten oder auch Gangstörungen – eine schnelle Erschöpfbarkeit ist ebenfalls typisch für die MS. Zwar ist die Autoimmunerkrankung bislang nicht heilbar, doch ihr Verlauf lässt sich mit Medikamenten meist günstig beeinflussen. Und dennoch: Wird eine Multiple Sklerose diagnostiziert, kann sie für allerlei Einschränkungen im Leben sorgen. Da sie meist bereits im frühen Erwachsenenalter zwischen 20 und 40 Jahren auftritt, sind vor allem Menschen betroffen, die mitten im Berufsleben stehen – eine Herausforderung für Arbeitnehmer und -geber gleichermaßen.
„Arbeit hat etwas Identitätsstiftendes“
Eine Kollegin aus dem Abrechnungsmanagement der PVS rhein-ruhr in Wuppertal kann dies bestätigen – im Jahr 2015 erhielt sie die Diagnose „Multiple Sklerose“. Lange Strecken fallen aufgrund eines tauben Beins schwer – das kribbelnde Gefühl, das sie verspürt, umschreibt sie recht eindringlich mit einer „Ameisenarmee, die durch die rechte Körperhälfte rennt.“ Welche Erfahrungen macht sie, wenn sie Menschen von ihrer Erkrankung berichtet? „Außenstehenden sind diese nicht sichtbaren Symptome mitunter schwer zu vermitteln, aber ich habe ja dennoch täglich mit den Einschränkungen zu kämpfen“, so die Betroffene. Für ihre Kolleginnen und Kollegen in der Wuppertaler Geschäftsstelle findet sie allerdings durchweg lobende Worte: „Meine Vorgesetzten haben stets im Hinterkopf, dass ich beispielsweise beim Tippen mittlerweile recht eingeschränkt bin. Am Platz arbeite ich daher mit einer ergonomischen Tastatur und Maus. Unsere stellvertretende Geschäftsstellenleiterin hat zudem ein gutes Gespür dafür, sollte es mir mal nicht so gut gehen.“ Denn auch die kognitive Verarbeitung von Informationen gelingt der Angestellten leider nicht immer ohne Weiteres, sodass sie etwa einen OP-Bericht mehrfach lesen muss. Die Tatsache, dass sie auch dank der umfassenden Unterstützung durch den Arbeitgeber weiterhin mitten im Berufsleben steht, lasse sich nicht hoch genug einschätzen: „Durch die Erkrankung habe ich Menschen kennengelernt, die es nicht mehr schaffen, einer täglichen Arbeit nachzugehen. Die den ganzen Tag daheim verbringen und somit immerzu auf sich und die MS zurückgeworfen sind.“ Da lauere durchaus die Gefahr, in eine Depression zu verfallen. Was die Abrechnungsmanagerin der PVS zudem feststellt: „Lege ich mich abends zu Hause auf die Couch, spüre ich die Beschwerden viel intensiver als tagsüber, wenn ich beschäftigt bin. Die Nervenschmerzen treten also eher dann auf, wenn ich eigentlich zur Ruhe kommen möchte.“
Welch hohen Wert es für Betroffene hat, weiter ihren Beruf ausüben zu können, weiß auch Dr. Sabine Schipper, Geschäftsführerin vom nordrhein-westfälischen Landesverband der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG). Die Diplom-Psychologin verdeutlicht: „Arbeit hat für die meisten Menschen etwas Identitätsstiftendes, das ist in diesem Fall nicht anders. Hinzu kommt der Aspekt der finanziellen Sicherheit. Fakt ist, dass Multiple Sklerose Menschen im jungen bis mittleren Erwachsenenalter trifft – da bestehen in der Regel noch nicht die opulenten Rentenansprüche. Der Mobilitätsverlust ist für MS-Patientinnen und -Patienten daher eine der größten Ängste überhaupt.“ Gleichzeitig zeigt Dr. Sabine Schipper aber eine Entwicklung auf: Mit Blick auf die letzten 30 Jahre habe sich einiges in Sachen medizinischer Versorgung und Therapien getan, sodass Verlauf und Symptome der MS besser „ausgebremst“ werden können. Durchaus herrsche in vielen Köpfen weiterhin der Irrglaube, dass die chronische Erkrankung unmittelbar zu schweren Verläufen führe. „Diese Sichtweise ist allerdings rückläufig, nicht zuletzt durch die Öffentlichkeitsarbeit der DMSG, die wir in den letzten Jahrzehnten getätigt haben“, so die Expertin, die zudem bestätigt, was auch die PVS-Mitarbeiterin aus ihrem Alltag berichtet: „Eine viel größere Aufmerksamkeit sollten all jene Symptome und Einschränkungen erhalten, die für Außenstehende nicht sichtbar sind.“
Sag ich es dem Arbeitgeber?
Was die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft seit Jahren erfolgreich tut, fällt vielen Betroffenen – besonders im Arbeitsumfeld – nicht immer leicht: Offen über die Krankheit zu sprechen. Im Zuge einer gemeinsamen Online-Befragung mit den NRW-Landesverbänden der Aidshilfe und der Rheuma-Liga hat sich die DMSG dem Themenfeld „Chronische Erkrankungen am Arbeitsplatz“ gewidmet. Insgesamt 1.280 Menschen mit einer chronischen Erkrankung nahmen zwischen Dezember 2017 und März 2018 an der Erhebung teil und gaben somit Auskünfte zu Schwierigkeiten am Arbeitsplatz, ihren Erfahrungen mit Unterstützung sowie zu Unterstützungsbedarfen. Die davon 447 Menschen mit MS äußerten sich unter anderem auch zur Frage des offenen Umgangs mit der Erkrankung im Job. Die Problematik „Ich wusste nicht, ob ich meine Erkrankung am Arbeitsplatz mitteilen soll“ bejahten danach 53,5 % der Befragten. Tatsächlich kein einfaches Unterfangen, wie Dr. Sabine Schipper erklärt: „Hier gibt es leider nicht den einen richtigen Weg. Vielmehr spielen da ganz unterschiedliche Überlegungen eine Rolle – »Welche krankheitsbedingten Einschränkungen habe ich überhaupt?«, »Was für eine Persönlichkeit bin ich?«, »Verbaue ich mir mit einer Offenlegung meiner Erkrankung Aufstiegschancen im Job?«. Da ist eine individuelle Beratung äußerst hilfreich.“ Letztlich muss auch das Klima am Arbeitsplatz mit in den Abwägungsprozess miteinbezogen werden, denn in einem familiären, warmherzigen Umfeld ist es ungleich leichter, über die individuellen Handicaps zu reden.
Damit die Integration trotz Multipler Sklerose gelingt, braucht es die bereits erwähnte Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit, um Unsicherheiten oder Vorbehalte auf Arbeitgeberseite schwinden zu lassen. Ein Vorgesetzter, der etwa weiß, dass eine MS meist in Schüben verläuft – dass auf eine schwierige Phase also wieder mehrere produktive folgen können – kann der entsprechenden Person entgegenkommen. Da sind neben entlastenden Hilfsmitteln für die PC-Arbeit sowie Mobilitäts- und Sehhilfen auch flexible Arbeitszeiten und spezielle Pausenmodelle zu nennen. Hinzu kommen die Schaffung barrierefreier Arbeitsplätze und Überlegungen zu Homeoffice-Lösungen. Hier steht die DMSG ebenfalls beratend zu Seite: „Wir schauen nicht nur auf den erkrankten Arbeitnehmer, sondern auch auf die Seite des Arbeitgebers“, so Dr. Sabine Schipper. „Gemeinsam lässt sich erörtern, wo Möglichkeiten, aber auch Herausforderungen bestehen. Wichtig ist es, aus dieser Sprachlosigkeit herauszukommen und miteinander zu reden.“
Auf eben diesen Dialog setzt auch die PVS, um chronisch erkrankte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bestmöglich im Unternehmen einbinden zu können. Ein wichtiger Punkt ist dabei, dass jederzeit die individuellen Leistungsgrenzen Berücksichtigung finden. Das betont auch die PVS-Angestellte aus Wuppertal: „Ich habe über die Jahre gelernt, auf meinen Körper zu hören und mir meine Kräfte einzuteilen. Dabei kommt mir das Unternehmen sehr entgegen, indem beispielsweise Aushilfen oder unsere Auszubildende hier in der Geschäftsstelle meine Akten dahingehend vorbereiten, dass ich diese nur noch auswerten muss.“ Dies zeigt: Wenn alle Beteiligten an einem Strang ziehen, können auch Menschen mit Multipler Sklerose weiterhin einem erfüllten Berufsleben nachgehen.