Was wäre der Mensch ohne Konzentration? Die wertvolle Gabe lässt uns kommunizieren und lernen, empfinden und lieben. Doch während die Ablenkungen im Alltag kontinuierlich zunehmen, fällt es uns immer schwerer, die Konzentration aufrecht zu erhalten. Der Bestseller-Autor Volker Kitz beleuchtet in seinem aktuellen Buch die Kulturgeschichte der Konzentration und stellt verschiedene Übungen zum Trainieren dieser Fähigkeit vor. Seine Expertise beruht dabei auch auf persönlichen Erfahrungen, die er in einem Schweigeseminar im Himalaja gemacht hat.
Ein jeder kennt die kleinen Ablenkungen im Alltag – ab wann jedoch kann sich ein Mangel an Konzentration zum Problem entwickeln?
Volker Kitz: Ein Problem entsteht, wenn sich der Alltag nicht mehr zufriedenstellend bewältigen lässt. Wenn Menschen zum Beispiel im privaten Bereich bemerken, dass sie kaum noch wahrnehmen, was um sie herum passiert. Da gibt es Anhaltspunkte, etwa wenn vom Partner oder von Freunden wiederholt Äußerungen à la „Hörst du mir nicht richtig zu?” oder „Das habe ich dir doch gestern erst erzählt!” kommen.
Und wie verhält es sich im beruflichen Kontext?
Dort wird es kritisch, wenn Betroffene den Eindruck haben, dass sie ihre täglichen Aufgaben nicht mehr gut bewältigen. Wenn sie Dinge schwer anfangen oder zu Ende bringen können oder ihnen Fehler unterlaufen. Gleichzeitig haben wir uns an diesen Umstand ein wenig „gewöhnt”. Meiner Meinung nach sind wir bei Aussagen wie „Das war keine Absicht” oder „Das ist mir so durchgerutscht” zu nachsichtig. Da herrscht die Erwartung, dass Fehler automatisch entschuldigt sind. In die Öffentlichkeit kommen Konzentrationsfehler nur, wenn sie Katastrophen wie Zugunglücke auslösen. Dabei verursachen all die kleinen Unkonzentriertheiten im Wirtschaftsleben, in Unternehmen, in Praxen oder Krankenhäusern insgesamt jedes Jahr große Schäden. Unternehmen haben ein Interesse daran, Umstände zu schaffen, unter denen sich die Beschäftigten besser konzentrieren.
Im Buch erwähnen Sie das psychologische Phänomen der “ironischen Prozesse” – je stärker wir uns darauf versteifen, uns von einer Sache nicht ablenken zu lassen, desto eher schiebt sie sich in unser Bewusstsein.
Da gibt es interessante Experimente. Ein sehr populäres lautet wie folgt: „Versuche für ein paar Minuten lang nicht an einen weißen Bären zu denken.” Dieser ist dann natürlich dennoch ständig präsent, da unser Gehirn wie ein Türsteher funktioniert – es muss wissen, was es draußen halten soll. Offenbar entsteht sogar eine Art Nachholbedarf, möchten wir einen bestimmten Gedanken unterdrücken. Wer den Auftrag erhält, fünf Minuten nicht an Schokolade zu denken, entwickelt erst recht einen Heißhunger darauf. Es funktioniert demnach nicht, Gedanken zu unterdrücken. Was allerdings hilft, ist die sogenannte fokussierte Ablenkung: Dabei lege ich mir ein bestimmtes Bild zurecht, beispielsweise ein rotes Auto. Tritt ein Gedanke auf, von dem ich mich befreien möchte, rufe ich mir dieses rote Auto in Erinnerung. Somit wird der Gedanke nicht unterdrückt, sondern abgelenkt. Ich lenke mich quasi von Ablenkung ab.
Die Wege zu mehr Konzentration gestalten sich individuell: Manch einer benötigt dafür Stille, andere wiederum konzentrieren sich bestens bei Musik. Können Sie das vertiefen?
In den 1990er-Jahren gab es eine berühmte Untersuchung, die den sogenannten „Mozart-Effekt” belegen sollte. Man konzentriert sich angeblich besonders gut bei einer bestimmten Sonate des Komponisten. Dieser Zusammenhang ließ sich jedoch später nicht erhärten, denn die Probanden konnten sich genauso gut bei Horror-Hörbüchern von Stephen King oder Rockmusik konzentrieren. Die Erklärung lautet daher, dass jeder sich mit der Geräuschkulisse gut konzentriert, die er mag, weil sie Menschen jeweils in eine konzentrationsfördernde Grundanspannung versetzt – in einen sogenannten Arousal-Zustand.
Goethe, so schreiben Sie, habe seine Konzentration dank Abwechslung aufrecht erhalten. Was bedeutet das für die heutige Zeit, in der täglich neue Informationen auf uns einprasseln?
Die gesamte Geschichte der menschlichen Weiterentwicklung ist eine Frage nach dem richtigen Maß zwischen Konzentration und Ablenkung. Konzentrierten sich bereits unsere Vorfahren zu sehr auf eine Sache, übersahen sie mitunter ein wildes Tier oder manch andere Gefahr. Heute entgehen uns auf diese Weise bestimmte Neuerungen, wir verpassen den Anschluss. In der Tat ist es so, dass unser Gehirn Ablenkungen und neue Reize mag – wir empfinden das als angenehm. Bei einer eher drögen Tätigkeit, die länger andauert, kann ich diese daher in kleine Einzelschritte aufteilen. Beispiel Steuererklärung: Belege sammeln, sortieren, Beträge addieren, Werte eintragen. Das klingt abwechslungsreicher als dieser riesige Block „Steuererklärung machen”.
Der Störfaktor schlechthin ist für viele Menschen das Smartphone. Dieses für eine gewisse Zeit beiseite zu legen, scheint jedoch leichter zu klingen, als es ist …
Manch einer schaltet sein Smartphone während der Arbeit stumm oder dreht das Display um. Doch Studien haben ergeben: Bereits die bloße Anwesenheit des Gerätes stört die Konzentration, selbst dann, wenn es komplett ausgeschaltet ist. Unbewusst fragen wir uns: „Was könnte in der Welt gerade passieren?” Seit ich das weiß, lege ich mein Smartphone in eine Schublade oder ins Nachbarzimmer. Den Klingelton habe ich aktiviert und Menschen in meinem Umfeld gesagt, sie mögen mich bei wichtigen Angelegenheiten anrufen. So erübrigt sich der ständige Blick aufs Display, verbunden mit der Frage, ob ich etwas verpasse.
Welche positiven Effekte bringt es mit sich, geht man nicht unmittelbar jedem Verlangen nach?
Die Impulskontrolle ist die wichtigste Fähigkeit, um sich von Ablenkungen zu befreien. Wie schaffe ich es, den Impulsen „Aufstehen, um einen weiteren Kaffee zu kochen” oder „Den Schreibtisch verlassen, um eine Raucherpause einzulegen” nicht nachzugeben? Der Psychologe Walter Mischel hat die Perspektive der „Fliege an der Wand” vorgeschlagen: Dabei gilt es zu versuchen, sich aus der Perspektive eben solch einer Fliege zu betrachten. Aus dem starken Impuls „Ich muss jetzt aufstehen und mir einen neuen Kaffee holen” wird so die Wahrnehmung „Da sitzt ein Mensch, der würde gerne von seinem Arbeitsplatz aufstehen. Das kann dieser Mensch aber genauso gut auch in einer halben Stunde tun.” Und das dann mit dem besseren Gefühl, dass er zuerst eine Aufgabe erledigt hat. Diese Distanz erleichtert es, einem Impuls nicht ausgeliefert zu sein.
Trommelnde Finger, wippende Beine – inwiefern korrelieren Konzentration und Körper?
Auf diesen Zusammenhang bin ich bei meiner Recherche für das Buch immer wieder gestoßen. Körperliche Bewegung, mag sie noch so nervös wirken, kann zu einer besseren Konzentration beitragen. So wurden in einem Experiment Schülern Hometrainer unter die Tische gestellt; die stetige Bewegung der Beine schlug sich positiv auf die mathematischen Leistungen nieder. Auch Zuhörer, die während eines Vortrags auf einem Blatt Papier kritzeln, steigern ihre Konzentration. Ähnlich ist es beim Kaugummikauen. Die Erklärung dafür: Wie bei den Geräuschen versetzt uns auch die Bewegung in eine Grundanspannung, welche die Konzentration erleichtert.
In einem zehntägigen Schweigeseminar im Himalaja machten Sie unter anderem folgende Erfahrung: „Spricht man eine Zeit lang nicht mit anderen, hört man auch auf, mit sich selbst zu sprechen.” Mit welchen Folgen?
Nach etwa dem vierten Tag habe ich festgestellt, dass die inneren Monologe aufhören. Der Kopf wird leer. Das ist ein abenteuerlicher Zustand, denn nun kann man beobachten, wo ein Gedanke herkommt und wo er hin geht. Da entstehen ganz interessante Assoziationsketten: Beim Durchstreifen eines Nadelwalds wurden beispielsweise Erinnerungen an ein lange zurückliegendes Weihnachtsfest mit der Familie wach. Wer auf diese Weise lernt, seine Gedanken zu beobachten, schafft es auch, sich immer besser von ihnen zu befreien.
Lässt sich das Gedankenkarussell mit einer gewissen Konzentration also abschalten?
Ein Gedanke lässt sich zwar nicht kontrollieren – bemerke ich aber, dass er entsteht, kann ich ihn auch wieder ziehen lassen. Ich gebe ihm keinen „Landeplatz”, von wo aus er mich noch stundenlang beschäftigt. Die Grunderkenntnis lautet: Ich bin meinen Gedanken nicht ausgeliefert. Das klingt einfach, benötigt aber Training. Mit meinem Buch möchte ich der Leserschaft dafür Anleitungen an die Hand geben.