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Stammbaum

Was uns der Blick in die Familiengeschichte verrät

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Portratitfoto des Artikel-Autors Robert Targan
Von ROBERT TARGAN (Freier Texter, Autor & Redakteur)
5 Min.Lesezeit

Inwiefern hängen unerledigte Themen im Familiensystem mit auftretenden Krankheiten, Symptomen und anderen Problemen zusammen? Wirken traumatische Erlebnisse oder unbetrauerte Verluste generationsübergreifend nach, und können sie in Stellvertretung von heute lebenden Menschen übernommen werden? In ihrem neuen Buch „Wie die Familie unser Leben bestimmt – Genogramm und systemische Aufstellungen” beleuchtet die Fachärztin Dr. med. Birgit Hickey solch transgenerationale Schicksalsbindungen und zeigt auf, wie diese mittels Genogrammarbeit und systemischer Aufstellungen zu lösen sind.

Treten Probleme in Paarbeziehungen auf, leidet das Verhältnis zu den eigenen Kindern oder erschweren bestimmte Symptome und Erkrankungen den Alltag, bieten sich intensive diagnostische und therapeutische Maßnahmen an. Doch was tun, wenn auch diese dauerhaft keine Wirkung zeigen? Hier lohnt es sich, zentrale Fragen mit dem familienbiografisch-transgenerationalen Ansatz zu beleuchten: Inwiefern stehen bestimmte Probleme im Zusammenhang mit unerledigten Themen im Familiensystem? Werden diese in Stellvertretung von nachfolgenden Generationen übernommen? Und welche Auswirkungen bringen unbetrauerte und unbearbeitete Erfahrungen mit sich? Die Fachärztin für Allgemeinmedizin und Diplom-Biologin Dr. med. Birgit Hickey ist als anerkannte Systemaufstellerin und Lehrtherapeutin tätig und seit 1992 niedergelassen in eigener Praxis, seit 2009 in Münster. In ihrem nun vorgelegten Buch „Wie die Familie unser Leben bestimmt – Genogramm und systemische Aufstellungen” vermittelt die Expertin ihre langjährigen Erfahrungen im Bereich der systemischen Medizin und Familientherapie. Befragt nach ihrer Einschätzung, inwiefern Patienten* der Zusammenhang zwischen der Problemstellung und dem jeweiligen Familiensystem bewusst sei, hält die Medizinerin fest: „Nicht selten mache ich die Erfahrung, dass Patienten bereits auf eine andere therapeutische Behandlung zurückblicken, die ihnen auch durchaus Entlastung verschafft hat. Und doch stellen sie oft fest: »Da ist noch etwas, das nicht beleuchtet wurde, etwas, das ich nicht lösen konnte.« Oder sie bemerken zum Beispiel einen inneren »Saboteur«, der gerade dann einschreitet, wenn ein Erfolg oder eine Heilung eintreten könnte. Dies kann darauf hindeuten, dass etwas Systemisches dahintersteckt.” Ein systemischer Zusammenhang lässt sich oft auch schon an anderen verbalen und nonverbalen Zeichen oder auch an „therapieresistenten“ Symptomen oder Krankheiten des Patienten im (Erst-)gespräch feststellen.

In ihrem Buch betont sie daher, wie hilfreich hier der Blick mit dem familienbiografisch-transgenerationalen Ansatz sei, gehe dieser doch davon aus, dass Probleme eben auch im Zusammenhang mit unerledigten Themen im Familiensystem stehen können – diese werden sozusagen in Stellvertretung übernommen. Das können etwa unbearbeitete Erfahrungen oder einschneidende Verluste sein; auch Traumata von Vorfahren wirken häufig generationsübergreifend weiter. „Ich denke da beispielsweise an Patienten mit Familienmitgliedern oder Vorfahren, die den Zweiten Weltkrieg erlebt haben”, so Dr. Hickey. „Da drehen sich die Therapiegespräche immer wieder um nicht betrauerte Verluste. Väter etwa, die in jungen Jahren ihren Vater verloren haben, ohne dies jemals verarbeitet zu haben. Solche Themen, auch wenn sie in der Familie zu keinem Zeitpunkt verbalisiert wurden, verschwinden ja nicht einfach.” Vielmehr seien es oft spätere Generationen, die dann (meist unbewusst) an diesem Leid mittragen. Je nach Lebensphase und Platz im Familiensystem können so ganz unterschiedliche Erkrankungen und Symptome in Stellvertretung für „ungelebtes Leben” im weitesten Sinne der Vorfahren auftreten; neben dem bereits genannten frühen Verlust von Elternteilen wären unter anderem Scheidungen, versäumte Gelegenheiten, tabuisierte Themen oder Heimatverlust – auch weiter zurückliegend, zum Beispiel in der Großelterngeneration – zu nennen. Dr. Birgit Hickey: „Die Frage danach, ob in einem Familiensystem traumatisierende Einschnitte oder unbearbeitete Verluste etc., die sich noch heute bei einem Patienten in Form eines Symptoms äußern können, vorliegen, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.”

Das Genogramm als erweiterter Stammbaum

Zur Entschlüsselung solcher Stellvertretungsaufgaben setzt Dr. Birgit Hickey in ihrer Praxis auf die familienbiografische Genogrammanalyse. Diese könne dazu beitragen, auffällig häufig auftretende alters- und symptombezogene Ähnlichkeiten aufzudecken. So sei es meist nicht zufällig, dass Menschen an einem bestimmten Lebenspunkt auf eine therapeutische Unterstützung zurückgreifen. In ihrem Buch „Wie die Familie unser Leben bestimmt – Genogramm und systemische Aufstellungen” verdeutlicht die Autorin: „Das Genogramm ist ein erweiterter Stammbaum, der meist drei bis vier Generationen umfasst und somit bis zu den Urgroßeltern zurückreichen kann. Darin werden alle zum Familiensystem gehörenden Personen mit genauen Daten und biologischen, rechtlichen und sonstigen Beziehungen über die vertikal angeordneten Generationen (Eltern-, Großeltern- und ggf. Urgroßelternebene) notiert. Auch die Ebene des Patienten mit Geschwistern und ggf. Partnern und Kindern wird mit berücksichtigt.” Dies geschehe mittels Erstellung von standardisierten Symbolen und innerhalb einer Ebene chronologisch, also von links (früher, älter) nach rechts (später, jünger). Neben Verwandten können auch sozial oder emotional bedeutsame Menschen bei der Genogrammerstellung eine Rolle spielen.

Das Identifizieren übernommener Stellvertretungsaufgaben beruht dabei auf den drei familienbiografischen Fragen nach Viktor von Weizsäcker und Rainer Adamaszek: Warum hat der Patient gerade jetzt, in diesem Alter das Problem? Warum gerade so, mit dieser Symptomatik? Warum gerade hier, an diesem Platz im Familiensystem? „Geht es um das Zusammentragen familiärer Daten, lautet ein erster Impuls von Patienten nicht selten, dass ihnen kaum entsprechende Informationen vorlägen”, so Dr. Hickey, die hierfür einen Fragebogen zur Genogramm-Recherche entwickelt hat. „Leben aber die Eltern oder gar Großeltern noch, staunen diese Patienten später nicht schlecht, wie viel sie in Gesprächen und manchmal sogar anhand schon vorhandener Familienstammbäume doch noch in Erfahrung bringen konnten.” Die familienbiografische Genogrammanalyse zeigt, dass die jeweiligen Schicksalsbindungen, je nach Position in der Geschwisterreihe, ganz unterschiedlich erfolgen: So übernehmen Erstgeborene meist Stellvertretungsaufgaben auf der Ebene ihrer Großeltern, während zweite Kinder dies typischerweise auf der Elternebene tun – in beiden Fällen geschehen diese Stellvertretungen meist unbewusst und geschlechtsspezifisch.

In ihrem Buch führt Dr. Birgit Hickey eine Vielzahl an Patientenbeispielen auf, die ihr im Zuge ihrer Arbeit begegnet sind, und die Zusammenhänge zwischen unbewussten Schicksalsbindungen zu Familienmitgliedern und Krankheitssymptomen aufzeigen. Da wäre etwa der eindringliche Fall einer 39-jährigen Patientin, die kurz vor Aufsuchen der Praxis eine Gebärmutterkrebs-Diagnose erhalten hatte – Uterus und Eierstöcke waren bereits operativ entfernt worden. Zudem berichtete die Frau von länger anhaltenden Eheproblemen: Für den Unterhalt der gemeinsamen vier Kinder musste sie alleine aufkommen, während sie ihren getrennt lebenden Ehemann ebenfalls finanzierte. Diesen kräftezehrenden Zustand beschrieb die Patientin mit den Worten „wie im Krieg, alleine mit vier Kindern.” Im Zuge einer Genogrammerstellung zeigte sich, dass die Klientin als ältestes Kind noch einen Bruder sowie eine jüngere Schwester besaß. Auch kristallisierte sich heraus, dass der erste Mann ihrer Großmutter mütterlicherseits im Zweiten Weltkrieg gefallen war – die verwitwete Frau war zum damaligen Zeitpunkt 39 Jahre alt und musste fortan vier Kinder alleine aufziehen (s. Abb. 1). Diese der Patientin zuvor unbekannte Tatsache offenbarte ihr folgende Übereinstimmung: „Ich bin ja jetzt genauso alt wie meine Großmutter, als sie ihren Mann verlor! Und ich erlebe heute eine ähnliche Situation wie sie –  wie im Krieg, ohne Mann, alleine mit vier Kindern.” Dr. Birgit Hickey erinnert sich: „Im Laufe der Genogramm-Arbeit fiel der Dame zusehends auf, dass sie sich in der exakt selben Gefühlswelt befand, wie eben einst ihre Großmutter, ohne sich zuvor dieser genauen Wiederholung und tiefen Verbindung bewusst zu sein.” Dank verschiedener für die Aufstellung üblicher Rituale gelang es der Patientin, sich zu lösen und einen eigenen Platz einzunehmen. Das Verhältnis zum Vater ihrer Kinder besserte sich nach einigen Monaten; gesundheitlich und auch beruflich ging es wieder bergauf.

Systemische Aufstellung: Schicksalsbindungen lassen sich lösen

Dr. Birgit Hickey betont, dass der Blick auf die eigenen Vorfahren nicht zwangsläufig Negatives zutage fördern müsse: „Ein guter Kontakt zu den Großeltern etwa kann sich sehr bereichernd aufs Leben auswirken – in solchen Fällen jedoch sucht niemand eine Praxis auf. Die Menschen nehmen dann therapeutische Hilfe in Anspruch, wenn sie leidvolle Themen bearbeiten möchten.” Die in der familienbiografischen Genogrammanalyse gewonnenen Hypothesen lassen sich in nachfolgenden Systemaufstellungen überprüfen; mit dieser Vorgehensweise ließen sich laut der Expertin problematische Schicksalsbindungen und übernommene Stellvertretungsaufgaben idealerweise lösen oder zumindest positive Veränderungen anstoßen. Es gehe für Betroffene darum, den eigenen „richtigen” Platz unbelastet einzunehmen. Typischerweise werden Aufstellungen in Gruppen mit Menschen oder im Einzelsetting mit Symbolen durchgeführt. „In der Einzelarbeit verwende ich dreidimensionale Elemente wie zum Beispiel Holzfiguren in verschiedenen Größen (s. Abb. 2), da ich die Erfahrung gemacht habe, dass das Einspüren in die unterschiedlichen Plätze so leichter gelingt”, berichtet Dr. Hickey. „Diese Figuren können etwa die eigenen Eltern oder Kinder symbolisieren, aber auch Gefühle, Blockaden oder Symptome, wie zum Beispiel ein wiederkehrendes Herzrasen in bestimmten Situationen.” Der Aufstellende erhalte so die Möglichkeit, die Plätze anderer einzunehmen und gleichzeitig auch von diesen aus auf sich selbst zu blicken. Die Frage, in welcher Situation eher eine Gruppen- oder doch Einzelaufstellung die passendere sei, lässt sich dabei nicht ohne Weiteres beantworten. Dr. Birgit Hickey bespricht dies anhand der konkreten Situation und legt diese Entscheidung letztendlich in die Hände ihrer Patienten – und plädiert dafür, sich mit beiden Aufstellungsformen auseinanderzusetzen.
In ihrem Werk „Wie die Familie unser Leben bestimmt – Genogramm und systemische Aufstellungen” bestätigt Dr. Birgit Hickey die Erfahrung, dass wir Menschen gleich belastende Situationen ganz unterschiedlich verarbeiten. Aus diesem Grunde sei es nicht vorhersehbar, ob traumatische Erfahrungen im eigenen Leben oder auch generationsübergreifend nachwirken bzw. nachgewirkt haben. Allerdings: Um mit extremen Belastungen fertig zu werden, brauche es psychische Stärke, die vor allem auch durch frühkindliche positive Bindungserfahrungen und seelische Widerstandskraft (Resilienz) gegeben ist. Diese zeichnet sich durch Faktoren wie Akzeptanz, Optimismus, Netzwerk-, Lösungs- und Zukunftsorientierung aus. Wenn es in der Biografie an solchen Schlüsselfaktoren gefehlt hat, bestehe laut Dr. Hickey immer die Chance, auch über die hier angesprochene Methodenkombination eigenverantwortlich und selbstwirksam aktiv Einfluss auf die körperliche und psychische Gesundheit zu nehmen. So sind wir – das ist die gute Nachricht – nicht „wehrlos” der übernommenen „Mitgift” unserer Vorfahren ausgesetzt.

birgit-hickey.de

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