Wichtige Aufgaben bleiben unerledigt, die Leistungsfähigkeit im Job nimmt ab, soziale Kontakte leiden: Immer mehr Erwachsene erhalten die Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Wenn das Gehirn bestimmte Reize nicht klar filtern kann, entsteht Chaos im Kopf. Die Fachärztin Dr. med. Astrid Neuy-Lobkowicz behandelt seit über 15 Jahren erwachsene Patienten mit ADHS – sie kennt die vielen Symptome des Krankheitsbilds und weiß, dass Betroffene zusätzlich mit der Akzeptanz in Beruf und Gesellschaft zu kämpfen haben.
Die Konzentration ist nur für kurze Zeit aufrecht zu erhalten, kleinste Reize führen zu Ablenkung und Zerstreutheit. Häufig leiden Betroffene auch unter innerer Unruhe und Anspannung. Dies sind nur einige wenige von äußerst vielen Merkmalen, die im Zuge einer Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung auftreten können. Betroffene berichten, dass sie deutlich mehr wahrnehmen als andere Menschen, und dass sie schnell reizüberflutet sind. Im Kindesalter stellt die ADHS die häufigste Entwicklungsstörung dar – doch zunehmend wird die behandlungsbedürftige Erkrankung auch bei älteren Generationen erkannt. Schätzungsweise bis zu 3,5 Millionen Erwachsene sind in Deutschland von der psychischen Störung betroffen; in vielen Fällen wurde die ADHS jedoch nicht erkannt oder in ihren Auswirkungen unterschätzt. Dabei zeigen Studien, dass über 60 Prozent der Patienten, die als Kind bereits an einer ADHS litten, auch im Erwachsenenalter weiterhin Symptome aufweisen. „Mittlerweile sind allerdings viele der Betroffenen sehr gut aufgeklärt”, weiß Dr. med. Astrid Neuy-Lobkowicz, Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. „Sie sind in den Sozialen Medien vernetzt und tauschen sich dort sehr konstruktiv aus. Begeben sie sich dann auf die Suche nach Hilfe, finden sie jedoch oft keine störungsspezifische Behandlung.” So sei das Krankheitsbild „Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung” zwar seit rund 15 Jahren etabliert, es mangele allerdings an Fachärzten und Psychotherapeuten, die dieser Diagnose offen gegenüberstehen. „Die Menschen warten teils ewig auf einen Termin oder stoßen auf Unverständnis”, so die Expertin. „Wir sprechen hier aktuell tatsächlich von einem Stiefkind der Psychiatrie.” Viele Patienten blicken somit auf Psychotherapien, Klinikaufenthalte und die Einnahme von Antidepressiva zurück – mit wenig Erfolg, benötigen sie doch eine spezielle Behandlung.
Die ADHS vollzieht sich bei den meisten Betroffenen schon im Kindesalter. Aktuelle Forschungsergebnisse belegen, dass die Ursachen vorwiegend genetisch bedingt sind, die ADHS also erblich ist. Im Kindesalter zeigen sich vermehrt Unruhe und Getriebenheit, Merkmale, die im Erwachsenenalter oft nicht mehr so deutlich sichtbar sind. Innerlich bleiben ADHSler aber weiterhin unruhig und angespannt, sie können es nur besser verbergen. Häufig entwickeln sich dann auch zusätzliche Begleiterkrankungen wie Ängste, Depressionen oder Suchterkrankungen. Im Erwachsenenalter treten häufig Probleme bei der Organisation des Tagesablaufs auf. Oft leiden erwachsene Betroffene unter schnellen Stimmungsschwankungen. Sie können empfindlich und schnell verletzt sein, sie werden mitunter schnell wütend und aufbrausend. Konsequenzen ihrer Handlungen haben sie dabei nicht im Blick. Viele erwachsene ADHS-Betroffene tun sich zudem damit schwer, Arbeiten anzufangen und vollständig zu Ende zu führen. Nach einer schnellen Begeisterung haben sie Probleme, bei ersten Hindernissen das Ziel im Auge zu behalten. Natürlich treten diese Wesenszüge mehr oder weniger auch bei Menschen ohne solch eine Diagnose auf, jedoch keinesfalls konstant, so ausgeprägt und nicht in der gesamten Lebensspanne. Dr. Astrid Neuy-Lobkowicz verdeutlich daher: „Es existieren S3-Leitlinien, die auf dem aktuellsten Stand der Wissenschaft basieren und als höchste Behandlungsempfehlung fungieren. Für die Diagnostik ist es wichtig, dass sich eine Kernsymptomatik der ADHS bereits im Kindesalter zeigt – und diese setzt sich unter anderem aus einer motorischen Unruhe, enormer Ablenkbarkeit, Motivationsstörungen und einer desorientierten Arbeitsweise zusammen.” Auch haben Betroffene häufiger das Problem, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden.
ADHS tritt oft mit Begleiterscheinungen auf
Wenn das Durchhaltevermögen und die Selbstmotivation leiden, steigt automatisch die Resignation: Machen Kinder schon früh die Erfahrung, dass ihnen das Lernen in der Schule schwerfällt oder sie aufgrund ihrer Hyperaktivität bei Mitschülern auf Ablehnung treffen, manifestiert sich diese Rolle des Außenseiters. Kaum überraschend, dass solch eine Lebenserfahrung keine gute Grundlage für die spätere Entwicklung eines stabilen Selbstwertgefühls darstellt. So sind gleich mehrere Begleiterscheinungen zu nennen, die sich im Zuge einer ADHS entwickeln können – Schreib- und Rechenschwächen, Zwänge, Schlaf- und Essstörungen etwa. Dr. Astrid Neuy-Lobkowicz: „Über 80 Prozent der ADHSler, die wir sehen, leiden zusätzlich an einer weiteren psychiatrischen Erkrankung, bei rund 50 Prozent sind es sogar zwei. Vorwiegend sind das Depressionen, Angststörungen und auch Suchtentwicklungen, die die ADHS in der Erwachsenenpsychiatrie überlagern.” Bei vielen Patienten, die im Kindesalter nicht diagnostiziert worden sind, seien solche Komorbiditäten zu beobachten. Betroffene blicken mitunter auf eine lange Odyssee von Behandlungen und Praxisbesuchen zurück, denn herkömmliche Therapien stellen hier keine ausreichende Hilfe dar. Laut der erwähnten Leitlinien ist vielmehr eine medikamentöse Behandlung angezeigt, und zwar mit den beiden Stimulanzien Methylphenidat (Ritalin, Medikinet) oder Dexamphetamin (Elvanse). Diese bewirken, dass Patienten klarer, wacher und konzentrierter sind und anstehende Aufgaben erledigen – sie werden stimmungsstabiler.
Da es sich bei der ADHS um eine Störung handelt, die sich bereits im Kindesalter entwickelt hat, zählt es auch zur Diagnostik, dass Eltern und frühere Lehrer befragt werden, ebenfalls die Partner. Häufig lassen sich in den Schulzeugnissen auch Hinweise auf eine ADHS finden. Dr. Astrid Neuy-Lobkowicz kennt aber auch Ausnahmen, „hochintelligente Kinder, die zuhause einst eine umfangreiche Förderung genossen haben, jedoch Auffälligkeiten an den Tag legen, wenn sie sich später selbst organisieren müssen. Nach einem Einser-Abi fallen ihnen später als Student die alltäglichsten Dinge schwer, etwa das regelmäßige Einkaufen oder die rechtzeitige Rückmeldung bei der Universität.” Doch nicht nur in Schule und Studium beeinträchtigen die bekannten Symptome die Betroffenen in ihrer Entfaltung. Auch im Berufsleben, wo Selbstorganisation, Teamfähigkeit und Zuverlässigkeit ganz oben auf der Agenda stehen, sehen sich ADHSler großen Herausforderungen ausgesetzt. Werte wie Anstand, Höflichkeit und Respekt finden nur schwer Beachtung, wenn sich plötzlich Impulsivität und Wut ihren Weg bahnen; Konzentrationsstörungen und Priorisierungsschwächen verhindern zudem das zielgerichtete Arbeiten. „Ich bin ein großer Freund davon, dass auch Arbeitgeber sich mit der Problematik auseinandersetzen", betont die Expertin. „Schließlich besitzen ADHSler auch viele positive Seiten, agieren sie doch sehr kreativ, intuitiv und originell. Das sind die Menschen, die neue Sachverhalte aufdecken und Out of the box denken können. Heißt, sie müssen in besonderen Bereichen arbeiten, gekennzeichnet von Abwechslung, Neuigkeiten und Bewegung.” Gleichzeitig komme ihnen ihre Hypersensibilität zugute, da sie feine Schwingungen und Stimmungen wahrnehmen, um diese zielführend einzusetzen. Bei einer entsprechenden Beratung finden ADHSler also durchaus einen für sie passenden Platz in der Berufswelt.
Reize können nicht mehr gefiltert werden
Ständiges Getriebensein, unter Strom stehen, Hummeln im Kopf, Ablenkbarkeit – das alles sind Hinweise auf ADHS. Betroffene nehmen deutlich mehr Reize wahr, auch unwichtige. Diese jedoch können sie schlechter filtern. Das ADHS-Gehirn ist nicht in der Lage, Informationen zu priorisieren, was bedeutet, dass Betroffene sich schnell verzetteln, den Überblick verlieren und nur schlecht Entscheidungen treffen können. Dr. Astrid Neuy-Lobkowicz: „ADHS ist eine komplexe Netzwerkstörung im Gehirn, die mit den Botenstoffen Noradrenalin und Dopamin zusammenhängt. Insbesondere Dopamin wird dann erblich bedingt zu schnell abgebaut. Stimulanzien wie Ritalin oder Elvanse bewirken, dass Dopamin wieder verstärkt zur Verfügung steht.” Mit einer entsprechenden Erhöhung des Botenstoffs könne der ADHSler sich besser konzentrieren. Er fühle sich klarer, fokussierter und innerlich entspannter.
Die weitverbreitete Auffassung, bei einer ADHS handele es sich ausschließlich um eine „Kinderkrankheit”, erhöht den Leidensdruck vieler Betroffener im Erwachsenenalter. Vielmehr noch: Die Zweifel daran, ob es sich dabei überhaupt um eine Krankheit handele, erschweren die Akzeptanz in der Gesellschaft. Die Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie fordert hier deutlich mehr Aufklärungsarbeit: „Ich bin immer wieder überrascht über das teils vorliegende Halbwissen, das in der Diskussion um ADHS und die medikamentöse Behandlung an den Tag gelegt wird. Wir sprechen hier von einer ernstzunehmenden Erkrankung, für die nicht nur sehr gute wissenschaftliche Forschungsergebnisse vorliegen, sondern auch alle zwei Jahre ein Weltkongress stattfindet, an dem sich führende Universitäten beteiligen.” Tabuisierung und Stigmatisierung fänden ohne Frage auch bei anderen seelischen Beschwerden statt, der ADHS aber hafte in besonderem Maße die Bewertung einer eingebildeten Krankheit an. Und das fälschlicherweise. Dr. Astrid Neuy-Lobkowicz: „Es handelt sich ganz klar um ein Krankheitsbild – im Übrigen um das dankbarste in der Psychiatrie, denn es lässt sich am besten und schnellsten behandeln. Stimmt die Diagnose, erheben sich die Patienten teils wie Phönix aus der Asche und sie können so viel besser ihr eigenes Potential heben.”