Erst der Ausbruch der Coronapandemie, dann ein Krieg mitten in Europa: Krisen und Konflikte zerren aktuell so intensiv wie nie an den Nerven vieler Menschen. Nicht jeder kann indes mit der Flut an bedrückenden Bildern und unheilvollen Meldungen gleich gut umgehen – manch einer findet sich zusehends in einer Abwärtsspirale aus negativen Gedanken wieder. Dr. med. Andreas Hagemann, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, beobachtet diese Entwicklung aufmerksam. Er weiß: Dank individueller Strategien lassen sich Ängste eindämmen.
Sorgenvolle Blicke in die Zukunft gab es generationsübergreifend schon immer – welche Funktion haben solche Ängste?
Dr. med. Andreas Hagemann: Angst ist immer die Reaktion eines Menschen auf eine Situation, die er als unkontrollierbar erlebt. Als Bedrohung. Jede Generation hat dabei ihre eigenen Sorgen und Notwendigkeiten. Angst besitzt dabei durchaus eine Schutzfunktion, solange sie in einem vernünftigen Rahmen verläuft und nicht in einer Erkrankung gipfelt. Dies lässt sich zum Beispiel mit gewissen Erfahrungen verhindern: Jemand, der eine bestimmte Situation als ungefährlich erlebt hat, wird auch künftig in dieser Lage keine Angst verspüren.
Ab wann ist beim Streben nach Kontrolle und Sicherheit von einem riskanten Verhalten die Rede?
Ständiges Kontrollieren hat einen zwanghaften Charakter, und Zwang ist immer auch der Versuch, über einen äußeren Faktor eine innere Sicherheit herbeizuführen. Wir sprechen von einer Angststörung, wenn ein Gefühl der Angst zu häufig und zu lange auftritt, und somit zusehends den Alltag beherrscht. Wenn der Mensch nicht mehr frei ist in seiner Entscheidungsgestaltung und es immer wieder zu bestimmten Einschränkungen kommt. Wichtig ist hierbei die Einschätzung des individuellen Leidensdrucks.
Welche körperlichen Symptome sind bei der verstärkten Angst um die eigene Sicherheit zu beobachten?
Spürbare Symptome werden hervorgerufen durch die Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin: Es kommt zu einer Blutdruckerhöhung und Pulssteigerung sowie einer Erweiterung der Bronchien. Zudem wird die Muskulatur angespannt, denn der Organismus bereitet sich auf Flucht oder Angriff vor – letztlich die beiden Möglichkeiten, sich aus einer kritischen Situation zu retten. Betroffene nehmen diese körperlichen Symptome wahr, bewerten sie als etwas Gefährliches, dies schürt abermals Angst, was zur erneuten Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin führt. Dieser Teufelskreis begünstigt dann eine Angstattacke.
Oft drehen sich Ängste um Phänomene, auf die wir keinen Einfluss nehmen können – man denke nur an die Jahrhundertflut im Sommer 2021. Was können solch globale Ereignisse auf der individuellen Ebene auslösen?
Es gibt Menschen, die können da gut differenzieren und solche Ereignisse ohne Probleme wegstecken – nicht jeder Regen führt schließlich direkt zu einer Überschwemmung. Andere wiederum, die solch eine Naturkatastrophe miterlebt haben und deren Leben unter Umständen bedroht war, erinnern sich bei jeder Unwetterwarnung umgehend daran zurück. Da sprechen wir dann von einer Traumafolgestörung. Dieses Wiedererinnern wird, in Kombination mit einem Gefühl der Machtlosigkeit, als extrem belastend erlebt.
Wie begegnen Betroffene diesem Ohnmachtsgefühl?
Das hängt damit zusammen, welche individuellen Strategien zur Verarbeitung solcher Ereignisse entwickelt wurden. Bestehen da vielleicht Defizite? Ein Mensch mit einer unsicheren Bindung zu seiner Ursprungsfamilie hat zum Beispiel nicht gelernt, darauf zu vertrauen, dass sich viele Dinge zum Guten wenden. Kritisch wird es bei der Entwicklung von Vermeidungsstrategien. Wenn explizit Situationen ausgelassen werden, von denen Menschen mit einer Angststörung vermuten, dass sich eine negative Erfahrung wiederholt. Wer sich von seiner Angst abwendet, vergrößert sie aber nur. Ziel muss es sein, das angstauslösende Phänomen auf der kognitiven Ebene zu betrachten. Um beim Beispiel zu bleiben: Ein gewöhnlicher Wolkenbruch ist ungefährlich.
Die Folgen der Coronapandemie haben in einem nie dagewesenen Ausmaß gezeigt, was es bedeutet, wenn das Weltbild ins Wanken gerät …
In der Tat haben die wenigsten von uns damit gerechnet, dass der Menschheit jemals so etwas geschehen könnte. Da ist eine diffuse Bedrohung plötzlich konkret geworden. Auch hier sind unterschiedliche Verhaltensweisen zu beobachten: Eher unsichere Persönlichkeiten fürchten vielleicht, dass solch eine Pandemie nun künftig immer wieder ausbrechen könnte; andere wiederum sprechen ihr die Existenz ab und negieren seit über zweieinhalb Jahren die Ereignisse. Der Mensch neigt zu einem Omnipotenzgefühl – „Mir kann nichts passieren!” –, doch durch die Coronapandemie sind wir wieder einmal vom Gegenteil überzeugt worden.
Auch der Krieg in der Ukraine erschüttert aktuell unseren Wunsch nach Sicherheit. Welche Ängste werden hier angesprochen?
Es ist davon auszugehen, dass psychische Erkrankungen hier stark zunehmen werden, nicht zuletzt, da der Stress in der Gesellschaft generell ansteigt. Dieses Gefühl, einer Situation ausgeliefert zu sein, ist ein Gefühl, mit dem wir Menschen nur schwer umgehen können. Schließlich möchten wir jederzeit alles in Gänze durchplanen. Dieses Bestreben entspricht nur leider nicht der Realität, handelt es sich dabei doch um den Versuch, eine Scheinsicherheit herzustellen. Menschen, denen es schwer fällt, eine emotionale Flexibilität zu entwickeln, geben sich dann ihren Ängsten zwangsweise hin.
Aufgrund der genannten Ereignisse finden sich viele Menschen in einer dauerhaften Alarmbereitschaft wieder. Erschwert das die Möglichkeit, eine gesunde Distanz einzunehmen?
Im Zuge der Coronapandemie ist mittlerweile zu bemerken: Je häufiger wir den Abfall und Anstieg der Infektionszahlen in den Sommer- und Wintermonaten miterleben, desto mehr gewöhnen wir uns daran. Eine gewisse Normalität tritt wieder ein, wenn auch eine neue. Normalität gibt immer Sicherheit, Struktur und Halt. Das war in den ersten beiden Jahren der Pandemie kaum möglich, da die Entwicklungen für uns alle neu waren – und alles, was neu ist, kann Ängste freisetzen. Die Frage ist, wie man mit diesem Ungewissen umgeht. Sobald die Angst einen Menschen in seiner Persönlichkeit einschränkt, wenn er sich zurückzieht oder in depressive Phasen gerät, sollte er sich professionelle Unterstützung suchen.
Inwiefern sorgen die täglichen Nachrichtenbilder dafür, dass Ängste zu einem Dauerbegleiter werden? Ist es ratsam, den Medienkonsum einzuschränken?
Es wäre nicht förderlich, sich komplett davor zu verschließen. Den Medienkonsum zu kontrollieren und eben auch zu reduzieren allerdings schon. Wer sich durchgehend mit den Kriegsbildern beschäftigt, verstärkt das bereits angesprochene Gefühl des Unkontrollierbaren. Der permanente Fokus darauf begünstigt einen Teufelskreis, der dafür sorgt, dass der Mensch überall nur noch das Negative sieht – gefangen in einer Abwärtsspirale. Besser ist es, die Augen zu öffnen und sich zu vergegenwärtigen: „Hier und heute besteht mein Alltag auch noch aus anderen Dingen, und aktuell geht es uns in Deutschland doch gut.” Diese Achtsamkeit lässt keinen Platz für Gedanken wie „Was könnte sein, wenn?”