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Tim Niedernolte hält ein großes, cyanfarbenes "R" aus Pappe hoch und schaut durch die runde Aussparung des Buchstaben

Tim Niedernolte: Respekt beginnt immer bei einem selbst

Foto: © Julia Baumgart Photography
Portratitfoto des Artikel-Autors Robert Targan
Von ROBERT TARGAN (Freier Texter, Autor & Redakteur)
7 Min.Lesezeit

Ob Hass-Kommentare im Netz, Attacken gegen Rettungskräfte oder die ewige Jagd nach dem eigenen Vorteil – zunehmend mangelt es unserer Gesellschaft an Respekt. Der TV-Moderator Tim Niedernolte (ZDF) legt passend zu dieser Entwicklung sein neues Buch vor: In „Respekt! Die Kraft, die alles verändert – auch mich selbst“ geht er der Frage nach, welche Verhaltensweisen zu unserer gesellschaftlichen Schieflage geführt haben. Gleichzeitig sieht Niedernolte aber auch Chancen für mehr Zusammenhalt: „Wenn wir kreativ werden und uns auf das zurückbesinnen, was uns ausmacht – Menschlichkeit, Herzlichkeit, Respekt.“

Herr Niedernolte, aktuell stehen Sie beim ZDF für hallo deutschland vor der Kamera, pendeln beruflich also zwischen ihrem Wohnort Berlin und Mainz. Da können Sie sicher ein paar Klassiker an Respektlosigkeiten aus Flieger und Bahn nennen …

Im Flieger: Ganz klar das frühzeitige Aufstehen. Sobald die Maschine gelandet ist und die Anschnallzeichen erlöschen, hält es viele Passagiere nicht mehr auf den ­Sitzen. Da wird die ­ Handgepäckklappe geöffnet und das Gedrängel beginnt. Mittlerweile bin ich aber – aus Respekt vor der Umwelt – auf die Bahn umgestiegen. Der Klassiker dort: Wenn ein vermeintlich reservierter Platz besetzt ist – und die Art, wie dies kommuniziert wird. Nicht mit: „Entschuldigen Sie bitte, ich glaube Sie sitzen auf meinem Platz“, sondern eher mit dem bösen Blick zwischen Ticket, Reservierungsnummer, Ticket, Reservierungsnummer. Am Ende liegt es einfach oft an der Art unserer Kommunikation.

Ihr Buch erscheint zu einer Zeit, in der es gilt, die Sorge vieler Menschen vor einer Infektion zu respektieren. Gleichzeitig formieren sich sogenannte Maskengegner und Corona-Leugner. Beobachten wir die gesellschaftliche Schieflage jetzt gerade wie durch ein Brennglas?
Ja, das würde ich so unterschreiben, dass diese Corona-Krise, die wir alle gemeinsam durchleben müssen, uns wie durch ein Brennglas, wie durch eine Lupe unsere Schwachstellen vor Augen führt. Da lässt sich ganz genau sezieren, wo es im gesellschaftlichen Miteinander, in der Kommunikation und beim Austausch von Argumenten hakt. Mal abgesehen vom Virus, der Krankheit und allen bedrohten Existenzen ist es auch eine spannende Phase, da wir beobachten können, wie sich eine Gesellschaft neu formiert. Wie sie funktioniert – und wie sie vor allem auch nicht funktioniert. Und wie wir alle gezwungenermaßen einen neuen Blick auf uns selbst erhalten.
Hinzu kommt diese Schnelllebigkeit: Was ist vom Respekt für systemrelevante Berufe und vom Balkon-Applaus aus dem Frühjahr geblieben?

Diese Schnelllebigkeit ist mir rückblickend auch aufgefallen, denn von Systemrelevanz und Applaus redet mittlerweile fast niemand mehr. Natürlich wird noch über das Gesundheitssystem und den Pflegebonus diskutiert. Aber über die Bedeutung von Lieferwagenfahrern und Supermarktmitarbeitern? Da ­wurde, so scheint es mir, ein dicker Haken dran gemacht. Es ist sicher auch ein gutes Stück menschlich, dass wir uns schnell neuen Themen widmen. Ich nehme mich da nicht aus. Umso wichtiger ist mir der Appell, immer wieder dankbar zu sein, auch wenn sich das Rad weiterdreht.

Auch politische Entscheidungen stehen aktuell verstärkt auf dem Prüfstand.

Ohne Frage: Ich erwarte von einer gewählten Person, die mich vertritt, dass sie integer ist und nach bestem Gewissen handelt. Ich darf aber auch keine Maßstäbe anlegen, die ich selbst vielleicht nicht erfüllen kann. Mir fällt da ein passender Satz ein, den ich kürzlich las: „Die Qualität unserer Entscheidung muss zum Zeitpunkt der Entscheidung beurteilt werden, nicht im Nachhinein.“ Im Zuge der Corona-Krise fällt auf, dass Politiker heute noch an Aussagen gemessen werden, die sie im März getätigt haben. Als noch gar nicht klar war, wie sich die Pandemie entwickelt. Natürlich ist es dennoch Aufgabe politischer Protagonisten, Respekt vorzuleben und ihre Entscheidungen daraufhin immer wieder zu prüfen.

Im Buch sprechen Sie auch Gewalt gegen Polizeibeamte und Rettungskräfte an. Da fehlt es nicht nur an Respekt vor diesen wichtigen Berufen, sondern auch an Wertschätzung, oder?

Und das finde ich erschreckend. Es ist für mich nicht nachvollziehbar, dass Personen, die nachweislich Gutes tun und für andere Menschen da sind, bespuckt, bepöbelt und angegriffen werden. Dass selbst die Menschen in diesen Berufen unter Respektlosigkeit und fehlender Wertschätzung leiden, will mir nicht in den Kopf. Da zeigt sich, wo wir – zum Teil – gesellschaftlich gelandet sind.
Wie lässt sich denn diese Einstellung erklären: „Ich lasse mich nicht einschränken! Ich habe Vorrang!“?

Ich fürchte, es fehlt der Blick für rechts und links. Das ist mir schon während der Arbeit an meinem ersten Buch zum Thema „Wertschätzung“ aufgefallen: Das Wechseln der Perspektive ist teilweise verloren gegangen. Stehe ich aufgrund eines Notarzteinsatzes im Stau oder verzögert sich die Weiterfahrt meines Zuges, gilt es zu realisieren, weshalb ich eben warten muss: Weil da jemand blutet, ein gebrochenes Bein hat oder gar um sein Leben kämpft. Dieser „Gedanken-Move“, sich aus der eigenen Komfortzone herauszubegeben und zu realisieren, was da gerade auf der anderen Seite passiert, der ist vielen Menschen verloren gegangen. Die Sorge, während eines Einsatzes angegriffen zu werden, ist für Polizisten und Rettungskräfte mittlerweile Teil des Jobs – und das darf nicht sein.

Das gilt mittlerweile auch für Journalisten …

… und ist genauso zu verurteilen und darf absolut nicht sein. Egal, wie man zu welcher Berichterstattung auch immer steht. Abgesehen von solchen Straftaten ist das mit dem Respekt und den Medien ein hochkomplexes Feld, bei dem es auf die jeweilige Perspektive ankommt. Wer schlechte Erfahrungen mit den Medien gemacht hat, bringt eine andere Sichtweise mit, als wiederum ich, der in dieser Branche arbeitet. Ich wünsche mir da einen beidseitigen Respekt: Dass die Akteure in den Medien nicht vergessen, für wen sie das machen und dass es auch andere Meinungen geben kann. Dass sie sich jeden Tag selbst hinterfragen, ob sie bestmöglich objektiv berichten. Auf der anderen Seite wünsche ich mir von Menschen, die sich als starke Medienkritiker hervortun, dass sie alternative Quellen wie etwa YouTube nicht unmittelbar für bare Münze nehmen, ohne dortige ­Inhalte zu hinterfragen.  

Womit wir beim Thema „Social Media“ angelangt wären. Inwiefern ist auch im Netz Zivilcourage möglich, damit wieder ein respektvollerer Ton angeschlagen wird?

Indem sich in erster Linie jeder Nutzer vor Absenden eines Kommentars selbst fragt, ob auch er entsprechend betitelt oder bewertet werden möchte. Fände ich es in Ordnung, das, was ich gerade kommentieren möchte, auch über mich im Netz zu lesen? Ein weiterer Schritt, diese Hass-Ketten zu unterbrechen, ist es, bestimmte Inhalte einfach mal nicht weiterzuleiten. Sich die Fragen zu stellen: „Ist das nicht doch unter der Gürtellinie? Muss ich das jetzt unbedingt mit meiner WhatsApp-Gruppe teilen?“ Auch ist es eine Überlegung wert, gewisse Aussagen bei Facebook oder Twitter zu melden oder den Urhebern dieser Kommentare fortan nicht mehr zu folgen. Es ist möglich, schon auf kleinster Ebene aktiv zu werden.

Blicken wir auf einen Ort, an dem es ebenfalls verbal zur Sache geht: das Fußballstadion. Sie schreiben: „Der dortige Sprachgebrauch ist prägend für den Nachwuchs.“

Ob am Abendbrottisch oder eben im Stadion: Es färbt auf die Jüngsten ab, wie sich Vater und Mutter ausdrücken. Kinder lernen nun mal von den Menschen, zu denen sie aufschauen: „Wenn der das darf, darf ich das auch.“ Da findet dann auch oft keine Bewertung der getätigten Äußerungen statt; vielmehr werden ­diese eben adaptiert. Daher sollten wir uns klarmachen, was Sprache auslösen kann. Dass unser Verhalten Folgen hat. Auch hier möchte ich mich nicht ausnehmen, denn auch ich kenne meine Defizite im Vorleben von Respekt, auch mir rutscht mal ein Spruch raus. Der Schlüssel für einen respektvolleren Umgang ist es, sich immer wieder bewusst zu machen, welche Dinge gut laufen, und welche nicht. Sich zu fragen: „Was kann ich beim nächsten Mal besser machen?“

Als im Frühjahr 2020 die ­Schmähgesänge gegen den Hoffenheimer Mäzen Dietmar Hopp eine neue Qualität annahmen, wurde in deutschen Stadien erstmals mit Spielabbrüchen gedroht …

… was ja eine Entwicklung aufzeigt. Ein notwendiges Aufwachen von den Offiziellen und den Stadionbetreibern, die sich per Lautsprecher einmischen. Im Idealfall erheben auch Zuschauer, die solche Beschimpfungen nicht tolerieren, Step by Step ihre Stimme. Dann ­bräuchte es solche Durchsagen erst gar nicht. Niemand muss Fan von Dietmar Hopp sein, dennoch sitzt da immer noch ein Mensch, den diese Gesänge treffen. Im Übrigen ein Mensch, der sich für eine erfolgreiche Corona-Impfstoff-Entwicklung einsetzt. Überspitzt formuliert ­wäre seitens der Fans folgender Gedanke möglich: „Der Typ, den wir zum Teufel jagen wollten, sorgt dafür, dass wir vielleicht bald wieder ohne Abstandsregeln ins Stadion gehen können.“

Inwiefern kann also Respekt, so nennen Sie es im Untertitel Ihres Buches, die Kraft sein, die alles verändert?

Ich hoffe einfach, dass es wieder selbstverständlicher wird, Respekt zu leben. Dass wir beide zum Beispiel über dieses Thema sprechen und unser Interview abgedruckt wird, ist bereits ein Puzzleteil von vielen. Dadurch schaffen wir neue Aufmerksamkeit. Bei sich selbst anzufangen, ist die wichtigste Schule. Wer mit sich selbst respektvoll umgeht, schafft die notwendige Basis, auch anderen Menschen entsprechend zu begegnen.

„Die Sache mit dem Respekt“, schreiben Sie, müsse „immer wieder neu erzählt werden.“

Genau, indem man immer häufiger von positiven Respekt-Geschichten berichtet. Die Menschen daran erinnert, was alles möglich ist und wie wenig Aufwand es eigentlich benötigt, unser Zusammenleben positiver zu gestalten. Dafür haben wir jeden Tag die Schlüssel neu in der Hand. Viele kleine Steinchen können die „Respekt-Lawine“ ins Rollen bringen.

timniedernolte.de

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