„Das sind nur die Hormone! Die wissen schon, was sie tun.” Ganz so einfach ist es nicht, findet die Neurowissenschaftlerin, Science-Slammerin und Buchautorin Dr. Franca Parianen. In ihrem Standardwerk „Herz, Hirn und Hormone” beleuchtet sie die wichtigsten Botschafter zwischen Kopf und Körper, Handeln und Gefühl. Dabei wird klar: Wer nur die Mythen, Vorurteile und Irrwege sieht, verpasst all das Positive, was in den Hormonen steckt. Darüber spricht Franca Parianen im Interview mit PVS einblick.
Wenn „die Hormone verrückt spielen” oder jemand „hormongesteuert” agiert, glauben wir zu wissen, wovon wir sprechen. Doch sind wir wirklich ausreichend über das Zusammenspiel der Botenstoffe im Bilde?
Dr. Franca Parianen: Nicht unbedingt, denn eine weitverbreitete Vorstellung von Hormonen ist, dass sie gar keine sinnvolle Aufgabe besitzen: Wie eine Art nerviger Störfunk, der einfach da ist. Auf die Gedanken sollen sie doch bitte keinen Einfluss nehmen, schlimm genug, dass Hormone auf unseren Körper einwirken. Wir lagern ihre Funktion also gedanklich etwas aus. Daran zeigt sich jedoch, dass uns die Rolle des Hormonsystems – immerhin das zweitwichtigste Kommunikationssystem unseres Körpers – nicht wirklich bekannt ist. Doch diese Botschafter müssen steuern, so, wie es auch die Neuronen tun. Ihre Aufgabe ist es, uns auf verschiedene Situationen einzustellen und dafür zu sorgen, dass wir mit Herausforderungen umgehen können. Die Hormone sind nicht ausgelagert, sondern eben Teil unseres Selbst. Vom Kopf bis zu den Zehenspitzen.
In Ihrem Buch schreiben Sie: „Wir machen uns gleichzeitig zu viele und zu wenig Sorgen um unsere Hormone.” Was sind die Gründe für dieses paradoxe Verhältnis?
Als die Hormone entdeckt wurden, ging es sehr schnell in Richtung Sexualität, Fruchtbarkeit, Maskulinität oder auch Überemotionalität – Stichwort Hysterie. Bereiche, mit denen wir sie auch heute häufig noch verbinden. Das hat einerseits den Nachteil, dass wir oft nur negative Aspekte sehen. Andererseits hat diese Vereinfachung dazu geführt, dass wir lange Zeit dachten, Hormone besäßen total unterkomplexe Eigenschaften – sodass sich auch jeder Einfluss, den wir darauf haben, unterkomplex gestalten würde. Gedanken rund um potenziell schädliche Nebenwirkungen, etwa bei der Einnahme der Antibabypille oder beim Einsatz von Hormonersatztherapien, kamen dabei – neben dem offensichtlichen Nutzen – lange zu kurz.
Pubertät, Stress, Schlafprobleme: Haben Hormone tatsächlich einen eher schlechten Ruf?
In unserer Vorstellung machen uns Hormone nicht selten unproduktiv. Sie lenken uns ab. Tatsächlich aber können sie für eine Art „Rückenwind” sorgen, für Motivation, Euphorie oder Herzklopfen. Schließlich erledigen wir unsere tägliche Arbeit ja nicht ausschließlich dank konzentriertem Stirnrunzeln. Vielmehr braucht es doch einen gewissen Flow, um am Schreibtisch die Aufgaben fokussiert zu erledigen, ohne sich parallel durch ständiges Scrollen auf dem Smartphone abzulenken. Auch ein höherer Herzschlag, etwa bei einem Vortrag vor Publikum oder in einer Prüfungssituation, erscheint auf den ersten Blick ungünstig und wird vielleicht als Panik gedeutet. Gleichzeitig aber ist es doch eben genau dieses Empfinden, das uns die Energie gibt, um die Wichtigkeit des Moments zu erkennen und die Situation zu meistern. Ähnlich ist es beim Sport, schütten wir dort doch Endorphine, sprich gute Gefühle, aus und raffen uns so vielleicht am nächsten Tag nochmal zum Joggen auf.
Auf Social-Media-Kanälen geben Hormon-Coaches und Zyklus-Influencerinnen Ratschläge oder bewerben verschiedene Produkte. Wie sehen Sie solche Entwicklungen?
Das ist in der Tat ein zweischneidiges Schwert: Zum einen ist da die positive Seite, denn viele Diskussionen müssen wir führen und auch auf die private Ebene weitertragen. So weiß mittlerweile nahezu jede Frau, was Endometriose ist. Das haben wir durchaus auch diesem privaten Buschfunk zu verdanken. Andererseits habe ich selten einen Bereich gesehen, in dem so viele Desinformationen durch unsere Social Media-Welt umherwandern, wie bezüglich unserer Hormone. Da fallen viele wichtige Informationen unter den Tisch, zum Beispiel die Tatsache, dass es bei der Einnahme von Hormonpräparaten immer um die Dosis geht: „Je mehr, desto besser” funktioniert hier nicht.
Schauen wir auf ein konkretes Beispiel: Was bewirkt Dopamin, der Hauptakteur im Belohnungssystem unseres Gehirns, etwa nach einem stressigen Arbeitstag? In Ihrem Buch ist vom „Willhabenwillhabenwillhaben”-Reflex die Rede …
Bei diesem Reflex kann es um die Überlegungen gehen: Was hat besonders viele Kalorien? Was hat Zucker? Was hat Fett? All die wunderbaren Dinge, auf die Dopamin Lust macht. Interessant daran ist dabei nicht einmal die Frage, wie sehr wir diese Dinge genießen, sondern wie oft unsere Hand beispielsweise immer wieder nach dem nächsten Kartoffelchip greift, obwohl diese Sorte unter Umständen gar nicht mal zu unseren Favoriten zählt. Belohnung kann auch durch Online-Likes entstehen, denn auch dieses Gefühl der Bestätigung ist Dopamin gesteuert. Gerade in diesem Fall zeigt sich, dass unregelmäßige Belohnung für Menschen viel verlockender erscheint, als regelmäßige.
Aber handelt es sich dabei um eine nachhaltige Strategie?
Ein Problem in Stresssituationen ist, dass wir alles etwas dumpfer wahrnehmen, eben bis auf die Gefahrenreize. Das Negative erscheint kristallklar, während alles andere ein wenig verschwimmt. Wächst dieses anstrengende Nicht-Gefühl immer stärker an und gerät der Mensch in einen Zustand, in dem er nichts anderes mehr wahrnimmt, tendiert er dazu, sich besonders starke Reize zu suchen. Reize, die diese Taubheit durchbrechen, wie beispielsweise Alkohol oder Drogen. Das können aber auch profanere Dinge sein, wie Zucker. Es gibt Beobachtungen, die nahelegen, dass die Süßigkeitenverkäufe in einer Stadt ansteigen, wenn der ansässige Fußballverein am Vortag verloren hat.
Wie schaffen wir es denn, im Alltag eine gewisse Stressresilienz aufzubauen?
Da müssen wir uns fragen, wie wir eigentlich mit Stress umgehen? Existiert da ein positiver Weg? Ich sehe verschiedene Möglichkeiten: Zum einen ist es wichtig, sich immer wieder Pausen zu nehmen. Denn fast alles, was beim Stress anstrengt, ist das Chronische. Bei akutem Stress sorgt das Kortisol hingegen dafür, dass wir wieder runterkommen, indem es den anderen Stresshormonen das Wasser abdreht. Zudem lässt es sich Erlernen, kompetent gegenüber Stress zu agieren. Die Erfahrung, dass Probleme lösbar sind, macht man am besten in Bereichen, in denen man sicher unterwegs ist. Bei der Ausübung eines Hobbys beispielsweise. Dieser Effekt hält auch für andere Situationen vor.
Inwiefern können uns auch die sogenannten „Frühlingsgefühle” beflügeln, wenn nach den dunklen Wintermonaten ein plötzlicher Serotoninanstieg eintritt?
Der Frühlingsbeginn ist die beste Zeit, um sich daran zu erinnern, dass der menschliche Idealzustand nicht eine Art Gleichgewicht darstellt, sondern vielmehr ein Auf und Ab. Wir benötigen Stimulation, Reize und Herausforderungen. Während der Januar meist noch trist und farblos daherkommt, entdecken wir bei den ersten frühlingshaften Temperaturen im Februar Menschen im Park, die auf einer Bank sitzend ihren Kopf mit geschlossenen Augen gen Himmel recken. In dieser Jahresphase erleben wir am intensivsten, wie sehr wir unsere Umgebung brauchen. Wie sehr wir Lichtstrahlen benötigen, um uns gesund zu fühlen und auch unsere innere Uhr festzusetzen. Sogar unsere kognitive Flexibilität steigt.
Eine andere, noch viel intensivere Umstellung vollzieht sich mit der Pubertät: Diese trage, so schreiben Sie, „zur allgemeinen Verwirrung bei” …
… denn diese Umstellung beinhaltet unter anderem den herausfordernden Versuch, neue gesellschaftliche Regeln zu erlernen. Beziehungsweise die in unserer Clique. Aus diesem Grunde sind die Pubertierenden auch sehr sensibel für die Bestätigung durch Gleichaltrige, aber auch für Zurückweisung. In diese äußerst anstrengende Lebensphase tritt dann noch die regelmäßige Konfrontation mit dem Wechselspiel aus Belohnung und Stress, in Form von Schulnoten, Hausaufgaben oder unangekündigten Tests. Da muten wir Heranwachsenden etwas zu, was wir in unserem Erwachsenenleben in diesem Maße nicht erleben: Vielmehr setzen wir doch auf das beruhigende Vertrauen, dass wir unsere tägliche Arbeit erledigen und lediglich dann von Kollegen kritisiert werden, wenn etwas besonders schlecht gelaufen ist. Wir sollten jungen Menschen viel häufiger die Möglichkeit geben, sich ohne diese ständige Beobachtung entdecken zu können. Selbstvergessenheit ist ein ganz wichtiger Teil des Lernflows.
Sie beschreiben unser Hormonsystem als einen „gewaltigen, alltagstauglichen Werkzeugkasten”: Wie also können wir es schaffen, Vorurteile abzulegen?
Der wichtigste Schritt, um dort hinzukommen, ist, die Komplexität anzuerkennen. Dass es sich bei bestimmten Körperreaktionen nicht um ein gewisses Hormon handelt, sondern um dutzende, die zusammenwirken und ineinandergreifen wie kleine Rädchen. Jedes davon dosisabhängig. Auch unsere Rezeptorstruktur spielt eine wichtige Rolle bei der Abwägung, wie ein Hormon auf uns wirkt. Wenn wir uns dieses Gebilde anschauen – mit all dem, was da den ganzen Tag arbeitet, um uns durch die Welt zu leiten – entsteht eine gute Portion Respekt vor der Frage, in welchem Maße wir in dieses komplexe System eingreifen möchten.