Der exzessive Konsum von Sozialen Medien und digitalen Angeboten führt bei immer mehr jungen Menschen zu Kontrollverlusten und einer Beeinträchtigung der psychosozialen Reifung. In den vergangenen Jahren verschärfte die Corona-Pandemie diese Entwicklung: Lockdown und Kontaktbeschränkungen gingen bei vielen Kindern und Jugendlichen mit noch höheren Nutzungszeiten einher. Der Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Dr. Rainer Thomasius kennt die Symptome einer krankhaften Mediennutzung – als Suchtexperte empfiehlt er frühzeitige Präventionsmaßnahmen.
Der Grundgedanke mag kein schlechter sein: Social Media soll Menschen weltweit verbinden und es ihnen ermöglichen, Netzwerke zu bilden. Doch Plattformen wie Instagram, Snapchat und TikTok stehen vermehrt in der Kritik, werden sie doch vor allem von jungen Menschen teils exzessiv genutzt. Besonders die Zielgruppe der 14- bis 24-Jährigen sei laut Experten gefährdet – denn diese Lebensphase stelle eine signifikante Zeit für die emotionale und psychosoziale Entwicklung dar. Befeuert wurde die Problematik zuletzt durch die Corona-Pandemie, in deren Hochphase digitale Medien nicht nur zur Aufrechterhaltung von Kontakten beitrugen, sondern bei der genannten Zielgruppe auch als probates Mittel zur Bekämpfung von Einsamkeit und Langeweile zum Einsatz kam. Prof. Dr. Rainer Thomasius ist Ärztlicher Leiter des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes und Jugendalters am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). Als Initiator einer Längsschnittuntersuchung zum Thema „Mediensucht” aus dem Jahr 2021 erkennt er einen starken Anstieg in den Bereichen Gaming und eben auch Social Media: „Es sind in der Hauptsache vier verschiedene Mechanismen, mit denen Soziale Medien, aber auch Computerspiele arbeiten. Da wären offerierte Belohnungen sowie ein soziales Miteinander zu nennen. Hinzu kommen die Phänomene Immersion – also ein Abtauchen in diese Medien – und ein Flow-Erleben, das den Konsumenten das beglückende Gefühl vermittelt, in digitalen Welten restlos aufzugehen und dennoch Kontrolle über die Abläufe zu haben.” Vor allem bei Plattformen wie TikTok, Instagram und Co. erhoffen sich die jungen Nutzer ein verbessertes Selbstwirksamkeitserleben.
Im Zuge der weltweit einzigartigen Studie, die das UKE gemeinsam mit der DAK-Gesundheit entwickelt hat, wurden bundesweit 1.200 Familien mehrfach zur digitalen Mediennutzung von Kindern, Jugendlichen und Eltern befragt. Demnach beträgt die durchschnittliche Spielzeit an der Konsole hierzulande werktags 109 Minuten, was einen Anstieg um 31 Prozent im Vergleich zur Zeit vor Corona bedeutet. Und auch bei den Sozialen Medien wuchs der Anteil der pathologischen Nutzung seit dem Jahr 2019, nämlich von 3,2 auf 4,6 Prozent. Deutschlandweit gehen die Experten von rund 250.000 betroffenen Jungen und Mädchen aus. Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass gerade die Zeit des Heranwachsens von der Suche nach Orientierung und Identifikation geprägt ist. Prof. Rainer Thomasius hierzu: „Neben dem verbesserten Selbstwirksamkeitserleben kommt es bei der Social Media-Nutzung zu einer positiven Bewertung eigener Fähigkeiten über Likes, Rückmeldungen und Kommentare. Für Mädchen ist zudem das Angebot, verstanden zu werden und in der Gruppe Gleichgesinnter angenommen zu sein, ausgesprochen wichtig.” Tatsächlich machen entsprechende Apps Offerten für alle Entwicklungsaufgaben, die in der Adoleszenz anstehen: Ob die Aufnahme von Beziehungen zu Altersgenossen beiderlei Geschlechts, die Identitätsgewinnung in der Rolle als Mädchen oder Junge, das Akzeptieren des eigenen Körpers oder aber die emotionale Unabhängigkeit von den Eltern – es tummeln sich unzählige Anknüpfungspunkte in den Sozialen Netzwerken. „Diese dort gezeigten Identifikationsflächen sind natürlich perfektioniert und meist unrealistisch”, unterstreicht Thomasius. „Das Diskrepanzerleben der Mädchen und Jungen zu diesen idealisierten Figuren ist mitunter groß. Da besteht dann durchaus die Gefahr, dass die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper zunimmt.”
Nutzungszahlen in der Pandemie gestiegen
Neben diesem erlebten Druck, ausgelöst aufgrund verzerrter Körperbilder, können im Falle einer exzessiven Social Media-Nutzung weitere negative Auswirkungen auf die Psyche auftreten. Studien belegen etwa eine schlechte Schlafqualität, nicht zuletzt bedingt durch das blaue Licht des Smartphones. Die „Fear of missing out”-Problematik (FOMO), also die Sorge, relevante Inhalte zu verpassen, ist ebenfalls zu nennen. Sie kann zu einer geringeren Lebenszufriedenheit führen. Und auch depressive Verstimmungen und Angststörungen sind mögliche Folgen einer pathologischen Nutzung – Social Media fungiert hier nicht zwangsweise als Auslöser, kann jedoch ein bereits bestehendes Gefühl der Unzulänglichkeit verstärken. Je mehr Raum also digitale Angebote im Alltag junger Menschen einnehmen, desto höher die Gefahr eines Kontrollverlustes; da geraten persönliche, familiäre und auch schulische Ziele schnell ins Hintertreffen. Die Zahlen der Studie von UKE und DAK-Gesundheit sprechen hier eine deutliche Sprache: Während 89% der befragten Kinder und Jugendlichen soziale Medien mindestens einmal wöchentlich nutzen, liegen die aktuellen Nutzungszeiten dabei unter der Woche im Schnitt bei 139 Minuten pro Tag. Im November 2019, also vor Ausbruch der Corona-Pandemie, waren es hier noch 116 Minuten. Hinzu kommen Computerspielkonsum und Streaming-Zeiten, die im Durchschnitt bei zusätzlichen zwei Stunden pro Tag liegen.
Befragt nach der öffentlichen Wahrnehmung für diese Problematik, nennt Prof. Rainer Thomasius gleich mehrere Adressaten: „Es handelt sich hier natürlich um ein großes gesundheitspolitisches Thema, denn der verantwortungsvolle Umgang mit Sozialen Medien benötigt unbedingt eine Förderung. Auch sollten die Anbieter von Social Media-Apps verpflichtet werden, in ihre Angebote Möglichkeiten der elterlichen Kontrolle zu integrieren, damit Erziehungsberechtigte – die aufgrund ihrer Vorbildfunktion ebenfalls zu nennen sind – die Nutzungszeiten besser im Blick haben. Zu guter Letzt wären da noch die Schulen, denn auch dort findet mitunter eine unkontrollierte Nutzung mobiler Endgeräte statt.” Im klinischen Bereich beobachtet der Experte in vielen Fällen, dass die Medienkompetenz sowohl beim Lehrpersonal, als auch bei den Eltern deutlich unter jener der Kinder und Jugendlichen liegt. Vielmehr noch: Rund 50 Prozent der Eltern stellen für ihre Kinder keinerlei zeitliche Vorgaben für den Nutzungsumfang von Medien auf; ein Drittel überprüft zudem nicht, welche Inhalte konsumiert werden. „Aus präventiver Sicht hat sich an diesen Umständen leider auch während der gesamten Corona-Phase nichts geändert”, so Prof. Rainer Thomasius, der neben seiner Tätigkeit am UKE das Amt des Vorsitzenden der Gemeinsamen Suchtkommission der kinder- und jugendpsychiatrischen Fachgesellschaft und Verbände bekleidet.
Konsum und Inhalte alterstufengerecht aushandeln
Die Vernetzung mit Gleichgesinnten, das Suchen nach Bestätigung und Aufmerksamkeit – manchmal kann sich all dies gar zu einem Teufelskreis entwickeln. Denn gerade in Situationen von Einsamkeit, depressiver Verstimmung oder auch Angst suchen junge Menschen Trost in Sozialen Netzwerken. Doch die dort lauernde Flut an aufgehübschten und teils unnatürlichen Bildern bietet eine eher zweifelhafte Hilfe, sollte das Selbstwertgefühl ohnehin schon leiden. „Da stellt sich die berühmte »Henne-Ei-Frage«”, so Thomasius. „Was war zuerst da? Was ist ein Trigger für eine übermäßige Nutzung? Was das Resultat? Tatsächlich gaben die Jugendlichen im Rahmen unserer Studie an, aufkommende Langeweile während des Lockdowns mit einem verstärktem Social Media-Konsum bekämpft zu haben. Zudem pflegten sie auf diese Weise Kontakte, die sie im realen Leben nicht aufsuchen konnten.” Vor allem Jungen und Mädchen mit einer erhöhten Anfälligkeit für Angst oder Stressempfinden, aber auch Kinder und Jugendliche aus von Interaktionsstörungen gekennzeichneten Familien seien hier stark betroffen gewesen.
Letztlich müssten Konsum und Inhalte, so der Kinder- und Jugendpsychiater, immer wieder in der Familie alterstufengerecht ausgehandelt werden – so kräfteraubend sich das manchmal auch gestalte. Es sei fatal, die eigenen Kinder zu früh und zu häufig alleine durchs Netz surfen zu lassen, da dies die Suchtgefahr deutlich erhöhe. Vielmehr sollten Eltern hellhörig werden, wenn Nutzungszeiten eskalieren, schulische Leistungen leiden oder Freizeitinteressen rückläufig sind. Prof. Rainer Thomasius: „Der Ratschlag lautet, sich jederzeit über die Aktivitäten der Kinder im Netz zu informieren, Interesse an den dortigen Inhalten zu zeigen und das Gespräch zu suchen. Ebenso gilt es aber gleichzeitig, Alternativen im Realkontext anzubieten.” Eine pragmatische Empfehlung laute: „Einen Tag in der Woche keine Handynutzung – und zwar für die gesamte Familie.”