Mehr als sieben Stunden täglich verbringt ein Großteil der Kinder hierzulande in den Kindertagesstätten. Da liegt es nahe, den Kleinen regelmäßig eine gesundheitsfördernde und nachhaltige Verpflegung zu garantieren, werden doch bereits im Kita-Alter wichtige Weichen für den späteren Lebensstil gestellt. Doch wie sieht eine ausgewogene, kindgerechte Kost überhaupt aus? Und finden Erzieherinnen und Erzieher die nötige Zeit für eine nachhaltige Ernährungsbildung? Nachgefragt bei Sonja Fahmy von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE). Als Expertin für den DGE-Qualitätsstandard für die Verpflegung in Kitas weiß die Oecotrophologin: Kindern sollte frühzeitig verinnerlicht werden, dass Essen und Trinken Spaß machen.
Mit der Zunahme der Ganztagsbetreuung in den vergangenen rund 20 Jahren stieg auch die Zahl der Kinder, die in der Kita ihr Mittagessen einnehmen. Wann rückte der Aspekt „Ernährung” in den Fokus der Öffentlichkeit?
Diese merkliche Zunahme der Ganztagsbetreuung begünstigte, dass sowohl Ernährungswissenschaftler als auch die Politik seit der Jahrtausendwende vermehrt den Blick auf eine entsprechende Verhältnisprävention richten: Wo leben die Menschen? Wie verbringen sie ihren Tag? Und wie können wir auf die Lebenswelt, die sie umgibt, einwirken? Dazu zählen neben der Kita auch Schulen, Betriebe und schließlich auch Seniorenheime und Kliniken. Also sämtliche Orte, wo Menschen leben und von der öffentlichen Hand betreut oder versorgt werden. Für die Kitas lagen vor 20 Jahren noch keinerlei Daten zur Verpflegung vor. Die Ergebnisse der Kindertagesstätten-Ernährung-Situations-Studie KESS aus dem Jahre 2000 verdeutlichten dann den Handlungsbedarf in dieser Lebenswelt.
Wie gestaltet sich die Situation heute?
Deutschlandweit zählen wir heute rund 57.000 Einrichtungen, in denen circa 3,7 Millionen Kinder betreut werden. Diese Kinder erhalten jährlich etwa 580 Millionen Mittagsmahlzeiten – eine ziemlich große Zahl. Betrachtet man zusätzlich die täglichen Betreuungszeiten von teilweise mehr als sechs bis sieben Stunden, ist die Lebenswelt Kita als großer Impulsgeber in Sachen Essverhalten und Geschmacksbildung zu betrachten. In den letzten zehn Jahren ist die Quote der Ganztagsbetreuung nochmal von 22 auf 34 Prozent gestiegen, was den Handlungsbedarf bei der Ernährung unterstreicht.
In diesen frühen Lebensjahren werden bereits wichtige Weichen für den späteren Lebensstil gestellt: Wie steht es da um das Risiko für Übergewicht oder Adipositas?
Man weiß, dass die Geschmacks- und Esserfahrungen in den ersten Lebensjahren prägend sind für das spätere Essverhalten. Das, was Kinder in frühen Jahren bereits an Lebensmittelvielfalt erfahren und was in ihrem allgemeinen Umfeld vorgelebt wird, nehmen sie mit großer Wahrscheinlichkeit mit hinüber ins Erwachsenenalter. Die genannten Risiken spielen dabei durchaus eine Rolle, allerdings zeigt die „Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland” (KIGGS) des Robert Koch-Instituts, dass die Zahlen hinsichtlich des Übergewichts zuletzt stabil geblieben sind. Die schlechte Nachricht ist jedoch, dass diese Zahlen auf einem relativ hohen Niveau stagnieren: Etwa 15,4 Prozent der Kinder und Jugendlichen sind in Deutschland übergewichtig – 5,9 Prozent gelten als adipös. Gleichzeitig zeigen die Daten, dass Übergewichts- und Adipositasprävalenzen mit zunehmendem Alter steigen.
Welche weiteren möglichen Erkrankungen sind zu nennen?
Wenn Kinder früh lernen, sich ausgewogen zu ernähren und ein adäquates Nahrungsangebot vorfinden, greifen sie auch in einem Alter, in dem die elterliche Kontrolle zurückgeht, eher zu den „richtigen” Lebensmitteln – Stichwort „Verbraucherbildung”. Ernährungsbedingte Erkrankungen folgen meist erst in einem späteren Lebensabschnitt, ich denke da bei stark übergewichtigen Kindern an einen Diabetes Typ 2, an Bewegungseinschränkungen oder auch Probleme mit den Gelenken. Die gesundheitlichen Einschränkungen machen sich also meist verzögert bemerkbar, festzuhalten ist jedoch, dass rund 80 Prozent der übergewichtigen Kinder später auch übergewichtige Erwachsene sind.
Was können Erzieherinnen und Erzieher den Kindern vermitteln? Wie wichtig sind Aspekte wie Lebensmittelvielfalt und die Zubereitung von Speisen?
Das sind in der Tat wichtige Ansatzpunkte, mit denen man arbeiten kann. Kindern sollte frühzeitig verinnerlicht werden, dass Essen und Trinken Spaß machen. Der Genuss sollte im Vordergrund stehen. Diese kleinen Menschen kommen mit einem natürlichen, angeborenen Hunger- und Sättigungsbedürfnis auf die Welt. Später greifen Familien – meist unbewusst – mit ihren Mahlzeitenstrukturen oder im stressigen Alltag „manipulierend” ein. Umso wichtiger ist es, zu verstehen, wie Kinder essen, wie sie Lebensmittel wahrnehmen. Der Süßgeschmack beispielsweise ist angeboren und evolutionär bedingt. Eine wichtige Botschaft, um adäquat mit dem Thema „Süßigkeiten” umzugehen. Gleiches gilt später übrigens auch für das Ablehnen bestimmter Lebensmittel. Da sprechen wir von einer Neophobie, der Angst vor etwas Neuem.
Sollte denn jedes neue Lebensmittel wenigstens probiert werden? Wie lässt sich die Herausforderung „Spaß statt Zwang beim Essen” bewältigen?
Hier ist es schwierig, den einen richtigen Weg zu finden. Die erwähnte Angst vor neuen Lebensmitteln kann nur verschwinden, wenn das Kind sie zumindest probiert. Auch ich bin durchaus der Meinung, dass immerhin ein Probierlöffel drin sein sollte. Im Gegenzug müssen Eltern aber auch das berühmte „Bäh!” und ein verweigertes Hinunterschlucken akzeptieren. Das altbekannte „Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt” sollte so verstanden werden, dass der Tisch eine Vielfalt bietet, aus der die Kinder auswählen können. Das gilt für zu Hause, aber auch für die Kita. Dort ist der Effekt aufgrund der Gruppendynamik umso größer.
Welchen Herausforderungen sehen sich die Einrichtungen am häufigsten ausgesetzt? Wie steht es um fehlende Räumlichkeiten oder den Zeitmangel bei der Ernährungsbildung?
Auch wenn das Thema „Verpflegung” in den Kitas in den vergangenen 20 Jahren an Relevanz gewonnen hat, ist weiterhin an vielen Stellschrauben zu drehen. Tatsächlich spielen da die räumlichen Strukturen eine Rolle; in vielen Einrichtungen gibt es beispielsweise keine Küche mehr. Das muss aber nicht zwangsläufig ein Zeichen für eine schlechte Verpflegung sein, schließlich kann auch ein Caterer diese Aufgabe bestens erfüllen. Die Ernährungsbildung wird in der Regel als „On-top”-Aufgabe von den Erzieherinnen und Erziehern geleistet. Allerdings sollte diese nicht in Form einmaliger Projekte wie „Heute beschäftigen wir uns mit der Kartoffel” oder „Wir backen gemeinsam Brot” stattfinden. Vielmehr handelt es sich dabei um eine kontinuierliche Aufgabe, die gleichzeitig unzählige Möglichkeiten bietet, weitere Bildungselemente mit einzubeziehen, etwa die motorischen Fähigkeiten beim Decken des Tischs oder die Farbenlehre anhand verschiedener Lebensmittel.
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) hat einen Qualitätsstandard für die Verpflegung in Kitas formuliert: In welchen Bereichen kann dieser eine Hilfe sein?
Hintergedanke des DGE-Qualitätsstandards für die Verpflegung in Kitas ist es zunächst, dem Spannungsfeld unzähliger Empfehlungen rund um eine gesunde Verpflegung entgegenzuwirken – unter Berücksichtigung von einheitlichen, bundesweiten Kriterien für ein gesundheitsförderndes und nachhaltiges Angebot. Der DGE-Qualitätsstandard bietet somit Hilfestellung bei der Umsetzung des Verpflegungsangebotes und ist gleichzeitig ein Instrument der Qualitätsentwicklung. Ich rate den Einrichtungen, Trägern und auch den Eltern stets, Emotionen rund um das Thema „Verpflegung” herunterzufahren und Fakten zu schaffen. Hier hilft der Qualitätsstandard, indem er zeigt, wie eine ausgewogene und nachhaltige Ernährung aussehen kann. Zum Beispiel: „Im Rahmen der wöchentlichen Mittagsverpflegung sollte es fünfmal Gemüse und davon zweimal Rohkost geben.” Eine Richtschnur für die Kita zur Umsetzung eines optimalen Angebots sozusagen. Gleichzeitig bietet der Standard auch den Eltern eine Orientierung, wenn es etwa um die heimische Speiseplangestaltung geht. Ein Rundum-sorglos-Paket!
Kitas können zudem von der DGE die sogenannte FIT KID-Zertifizierung erhalten: Welche Kriterien sind da zu erfüllen?
Einrichtungen, die sich ein ausgewogenes Angebot auf die Fahne geschrieben haben, können das auf freiwilliger Basis mit dieser Zertifizierung signalisieren. Interessierte Kitas melden sich bei der DGE und erhalten daraufhin einen Leitfaden mit Kriterien, die sie für die Zertifizierung umsetzen müssen – etwa bezüglich der Lebensmittelqualität und -häufigkeit oder einer fleischlosen Kost. Daraufhin erhalten sie ein Jahr Zeit, die Kriterien fest in der jeweiligen Einrichtung zu integrieren, um dann per Audit vor Ort überprüft zu werden. Bei der Zertifizierung wird das Thema „Verpflegung” vollumfänglich betrachtet: Das schließt nicht nur all das mit ein, was täglich bei den Kindern auf dem Teller und am Tisch passiert. Auch die Essumgebung wird berücksichtigt. Auch sind uns Kitas bekannt, die Eltern, die oft gestresst direkt nach der Arbeit ihre Kinder abholen, ein ruhiges Ankommen bieten. Da existiert ein separater Raum, wo sie neben einem Kaffee noch nützliche Informationen rund um die Ernährung erhalten. Und zwar so, wie es beim gesamten Themenkomplex geboten ist: Auf Augenhöhe und ohne erhobenen Zeigefinger.
Der DGE-Qualitätsstandard für die Verpflegung in Kitas
Der DGE-Qualitätsstandard für die Verpflegung in Kitas zeigt im Detail, wie ein gesundheitsförderndes Verpflegungsangebot in der Kita aussehen sollte. Im Fokus steht eine optimale Lebensmittelauswahl unter Berücksichtigung der speziellen Rahmenbedingungen in einer Kita. Dabei geht es nicht nur um ernährungsphysiologische Anforderungen, sondern auch um die Beachtung von Nachhaltigkeitsaspekten bei der Speiseplanung. Er dient als Instrument zur Hilfestellung bei der Umsetzung eines ausgewogenen Verpflegungsangebotes sowie zur Qualitätssicherung.