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„Diffuse Erinnerungen an einen dunklen, kalten Ort”

„Diffuse Erinnerungen an einen dunklen, kalten Ort”

Viele Kinder erlebten in den Kuren Druck, Strenge und Gewalt. Foto: © WDR
Portratitfoto des Artikel-Autors Robert Targan
Von ROBERT TARGAN (Freier Texter, Autor & Redakteur)
5 Min.Lesezeit

Weit über 15 Millionen Mal wurden Kindern ab dem Jahr 1945 in der BRD und der DDR Kuren verschrieben, manchen mehrfach: vordergründig zur Erholung und Gesundung. Doch ob an der Nord- und Ostsee oder in den Bergen – vor Ort erlebten diese Verschickungskinder nicht selten prägende Wochen, gekennzeichnet von strenger Erziehung, heilloser Unterbesetzung und Machtmissbrauch. Als die freie Radio- und Fernsehreporterin Lena Gilhaus (*1985) erfährt, dass auch ihr Vater und ihre Tante mit dem Zug in Kur geschickten wurden, beginnt sie ihre Recherche. Mit Radio- und TV-Dokumentationen sowie einem Buch deckte sie eine verdrängte Geschichte auf.

Bereits im Jahr 2017 haben Sie sich mit Ihrer Radioreportage „Albtraum Kinderkur” den Verschickungskindern gewidmet. Was hat Sie später dazu motiviert, das Thema auch in Film und Buch zu dokumentieren?

Lena Gilhaus: Nach den Gesprächen mit meinem Vater sowie anderen Verschickungskindern, die ich für diese Reportage geführt hatte, wollte ich mit Rückgriff auf deren Berichte die entsprechenden Kurheime ausfindig machen. Doch überall dort, wo ich anrief, hieß es, es gebe keine Informationen oder es habe dort nie ein Kinderkurheim existiert. Die Schilderungen der Verschickungskinder klangen somit wie ein Albtraum, der nicht mehr zu verifizieren war. Als hätte es diese Kinderkuren nie gegeben. Da es auch an journalistischen Beiträgen fehlte, reifte bereits 2017 die Idee, ein Buch zu verfassen. Im Jahr 2020 berichtete ich über das Schweigen der Politik und Träger zur Thematik, auch die Verschickungskinder hatten sich inzwischen organisiert, woraufhin ein gewisser öffentlicher Druck entstand. Erst da öffneten sich langsam die Archive.  

Ihr Vater und Ihre Tante wurden im Frühjahr 1967 zur Kinderkur an die Nordsee geschickt. Wie haben Sie früher Erzählungen der beiden wahrgenommen, wenn das Thema aufkam?

Ich wusste bereits in jungen Jahren, dass beide zur Kinderkur auf Sylt waren – und dass diese damals furchtbar gewesen sein muss. Bei Familienfeiern kam das Thema schon mal auf, meist aber nur vage. Damals konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen, weshalb man kleine Kinder für ganze sechs Wochen oder länger in solch ein Heim verschickte. Es waren aber eher diffuse Erinnerungen an einen dunklen, kalten Ort, die ich von meinem Vater und meiner Tante vernahm.       

Vor allem in den 50er- und 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts wurden in der BRD und der DDR unzählige Kinder per Zugfahrt verschickt: Was hat man sich unter den verschriebenen „Zunehm- und Erholungskuren” vorzustellen?

In der sogenannten „Wolfszeit”, zwischen Kriegsende und Grundgesetz, herrschte größte Not im Land. Der Wiederaufbau stockte: Alte, Kranke, Kinder verhungerten oder erfroren. Auch noch in den 50er-Jahren lebten viele Menschen in elenden Bedingungen. Damit lässt sich erklären, dass den Eltern der späteren Baby-Boomer-Generation daran gelegen war, dass ihre Kinder für schwere Zeiten gerüstet sind. Diese Zunehm- und Erholungskuren gab es aber auch schon vor 1933. Dahinter steckte überwiegend ein Blick auf die Arbeiterkinder, die, so wurde es damals genannt, „milieugeschädigt” seien. Es sei nie genug Luft und Licht an sie gekommen – nicht zuletzt aufgrund der schlechten Zustände in den Städten seit der Industrialisierung. Der Grundgedanke also war, die Kinder in diesen Kurheimen wieder aufzupäppeln. Sodass sie unter der Fürsorge von oftmals Frauen aus dem Bürgertum auf den richtigen Weg gebracht werden. Einerseits durch „gute Luft” und „gutes Essen”, andererseits aber auch durch strenge Erziehung.

Im Buchkapitel „Kinderkur als Elternentlastung” beleuchten Sie noch eine andere Seite …

Genau, die Kinderkuren dienten auch der Erholung der Eltern: nicht nur bei belastenden Lebenssituationen, bei Krankheit oder der Geburt eines Geschwisterkindes, sondern auch, um einfach mal ohne Kinder Urlaub zu machen. Aber offiziell gab es nur zwei Kurformen: Die Zunehm- und Erholungskuren, verbunden mit einem Ferienversprechen und Erzählungen von tollen Bergen, Wiesen und fröhlichen Kindern. Und die Heilkuren, für Kinder, die als krank eingestuft wurden. Sogenannte Heilstätten oder Sanatorien versprachen Asthma oder Neurodermitis zu heilen: sogenannte Psychosomatosen, die oft durch Stress ausgelöst werden. Ab den 60er-Jahren gab es auch immer mehr Kurangebote für „Neurotiker”: „Bettnässer” oder „Nägelkauer”. Ratgeber empfahlen Ärzten damals außerdem bei einer sozialen Indikation, zügig eine Kur-
überweisung zu schreiben.   

Was bedeutete „soziale Indikation” in diesem Fall?

Kuren wurden nahegelegt, wenn Kinder in einem Milieu aufwuchsen, das nicht der bürgerlichen Großfamilie entsprach – vielleicht war die Mutter berufstätig oder die Eltern lebten in Scheidung. Umstände also, die den damaligen Idealen nicht entsprachen. Dahinter stand ein gewisser Normierungsgedanke: Wer nicht ins Mittelmaß passte, etwa zu viel oder zu wenig wog, sich in den verschiedenen Einrichtungen und Institutionen nicht anpasste, der sollte zur Kinderkur verschickt werden.

Sie lassen in Ihren Reportagen einstige Verschickungskinder zu Wort kommen; man erfährt von empathielosen Erzieherinnen, getrennten Geschwistern und Esszwang. Erziehungsideale der 50er- und 60er-Jahre?

Viele der Baby-Boomer, die in dieser Zeit aufgewachsen sind, berichten, dass der Umgang in den Kurheimen weitaus das übertraf, was sie im Elternhaus erlebten. Auch dort gab es Druck, aufzuessen. Auch dort existierten Strafen. So wie auch in Familien, fördert Überforderung Strenge und Gewalt. Ein gewisser Drill und eine harte Pädagogik in den Kurheimen waren fehlenden Mitteln geschuldet. Die Einrichtungen waren oft unterbesetzt und mit wenig Budget ausgestattet: Wie soll eine einzige Person für die Sicherheit von 20 Kindern am Strand garantieren? So war es damals gängige Praxis, die Kinder hintereinander an einem Seil laufen zu lassen und sie immer wieder zu ermahnen. Freies Spiel wurde oft verboten. Hinzu kam: Der einzige Nachweis über eine erfolgreiche Kur war die Gewichtszunahme. Um diese zu erreichen, wurden den Kindern hochkalorische Milchsuppen und Brei eingeflößt: teilweise bis zum Erbrechen. Das haben nicht alle Heime so gemacht, aber schon erschreckend viele.

Die Arbeitsbedingungen vor Ort haben sich demnach stark auf die Betreuung der Kinder ausgewirkt.

Und die Kinderkurheime stellten damit keine Ausnahme dar. Während der Recherche ist bei mir der Eindruck entstanden, dass die Kurkinder für sechs Wochen in das hineingeschnuppert haben, was Heim- und Waisenkinder über Jahre ihres Heranwachsens erlebten. Denn auch diese berichten heute davon, dass sie unter sehr ähnlichen Methoden in den Heimen gelitten hätten: Strenge, Gewalt, Zwang und Einsamkeit. Diese Einrichtungen waren häufig ebenfalls unterbesetzt. In den Kurheimen waren oft auch Waisenkinder mit untergebracht – und umgekehrt. Die Fürsorgerinnen der Jugendämter, die die Kurkinder für eine temporäre Heimunterbringung auswählten, setzten auch staatliche Zwangserziehungsmaßnahmen für längere Heimaufenthalte durch. Vieles spielte sich also unter denselben Organisatoren ab.

Sie schreiben von Schlägen mit einem Stock, dem Einsperren in eine Kammer und von der Bestrafung von Bettnässern: Wie standen Mediziner damals zu solchen Maßnahmen?             

Wie auch die Heime darf man nicht sämtliche Ärzte jener Zeit über einen Kamm scheren. Mediziner, die damalige Kinderkur-Ratgeber verfasst haben, wie etwa der Kinderarzt Hans Kleinschmidt, hielten zwar fest, dass es „entehrend” sei, ein Kind ins Gesicht zu schlagen – aber die Hand könne durchaus mal „ausrutschen”. Auch empfahl er, dass sogenannte „unsaubere Kinder”, also Kinder, die nachts ins Bett machten, ihre schmutzige Wäsche selbst zu waschen hätten. Sie also zu bestrafen. Das Bettnässen wurde damals als großes Problem angesehen, es existierten unzählige Studien und Überlegungen der Mediziner: Da wurde unter anderem der Charakter des Kindes als Auslöser benannt. Trotz und Dickfelligkeit. Aber dass gerade die Strenge, die Strafen, die permanenten Einschüchterungen von Kindern – zuhause oder in der Schule – eine Ursache von Bettnässen sein könnten, darauf kamen viele Mediziner lange nicht.

Wie stand es denn während der Hochphase der Verschickungen um gesetzliche Kontrollen der Kinderkurheime?

Tatsächlich entstand während meiner Archivarbeit das Bild gewisser rechtsfreier Räume. Sowohl im Film, als auch in meinem Buch versuche ich zu erklären, wie dies geschehen konnte: Die Heime lagen teils weit abgelegen und häufig herrschte eine Briefzensur. Die Kinder durften und konnten ihren Eltern also nichts Negatives mitteilen. Beim Blick in die Akten der Landesjugendbehörden kristallisierte sich heraus, dass vielleicht alle zwei Jahre ein Kontrollbesuch der Kinderkurheime stattfand. Es reichte die Mitteilungspflicht der Heime: Etwa über „Unfälle” der Kinder, wie letztlich sämtliche Verletzungen bezeichnet wurden. Da bin ich auf erschreckende Listen gestoßen, die bis zu 500 Verletzungen von Kindern in verschiedenen Heimen aufführten: Zum Beispiel Risswunden, Abbiss der Zunge, Abbruch des Schneidezahns im Speise- oder Schlafsaal. Angaben zu den jeweiligen Ursachen und Hintergründen fehlten jedoch. Allein in einem Archiv stieß ich auf zwanzig Todesfälle! Auch da ging man den Umständen nicht nach, vielmehr schlossen die Kondolenzschreiben an die Eltern stets mit der Erwähnung eines „tragischen Geschicks”.

Wie beurteilen Sie die Bereitschaft der Heime zur Aufarbeitung?

In der Hochphase der Verschickungen ging es vordergründig darum, diese aufrecht zu erhalten, schließlich hingen daran sehr viele Arbeitsplätze. Ein Kinderkurheim konnte nur überleben, wenn es auch regelmäßig belegt wurde, somit waren die Behörden fortwährend damit beschäftigt, für Nachschub zu sorgen. Beschwerden von Eltern verliefen immer wieder im Sande. Auch heute noch erlebe ich es bei den Recherchen, dass immer erst gemauert, geschwiegen und abgestritten wird. Erst im Zuge meiner Veröffentlichungen und nachdem sich immer mehr Verschickungskinder gemeldet hatten, wurden Gewalthandlungen eingeräumt. Mittlerweile kam es auch zur Anzeige eines Erziehers, dem von mehreren Personen schwerer sexueller Missbrauch vorgeworfen wird.    

Nach dem „langen Schweigen der Verschickungskinder” haben Sie diesen nun eine Stimme gegeben: Welche Rückmeldungen erhalten Sie bis heute?

Ich erhalte sehr viele E-Mails und werde über meine Social Media-Kanäle angeschrieben. Ehemalige Verschickungskinder bedanken sich, dass sich jemand dem Thema angenommen hat. Ganz häufig aber erzählen mir Betroffene ihre Geschichte, sie berichten von ihren Erlebnissen. Als ich kürzlich mein Buch im Rahmen einer Lesung vorstellte, haben sich im Publikum sogar einstige Verschickungskinder gefunden, die sich vor vielen Jahren im selben Kurheim aufhielten! Auch schreiben mir manchmal Menschen, die auf positive Kuraufenthalte zurückblicken, die damals eine unbeschwerte Zeit an der See erlebten. Häufig waren sie als Kinder dann schon etwas älter. Davon berichte ich in meinem Buch ebenfalls. Insgesamt nehme ich ein sehr großes Mitteilungsbedürfnis wahr: Betroffene stellen sich die Frage, welche Auswirkungen die Geschehnisse auf die eigene Biografie hatten und haben. Und sie merken, dass sie mit dem Erlebten nicht alleine sind.

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