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Grafische, abstrakte Darstellung einer Essstörung

„Die Warnsignale sind äußerst vielschichtig”

Foto: © Wanlee - stock.adobe.com
Portratitfoto des Artikel-Autors Robert Targan
Von ROBERT TARGAN (Freier Texter, Autor & Redakteur)
5 Min.Lesezeit

Wenn sich aus dem harmlosen Wunsch, ein paar Kilos zu verlieren, schrittweise ein krankhaftes Muster entwickelt, spielen in den meisten Fällen gleich mehrere Faktoren eine Rolle. Ob Magersucht, Bulimie oder aber auch das exzessive Binge-Eating – Essstörungen sind eine ernstzunehmende Erkrankung, deren Ursachen sich in einer Therapie bearbeiten lassen. Vera Baumer ist Diätassistentin sowie zertifizierte Diät- und Ernährungsberaterin VFED/VDD und hat die therapeutische Leitung bei TheraTeam München inne. Sie weiß: Jeder Mensch ist und isst anders.

Der Sammelbegriff „Essstörung” vereint ganz unterschiedliche Krankheitsbilder: Mit welchen Problemen suchen Betroffene Sie auf?

Vera Baumer: Grundsätzlich wenden sich Menschen mit jeglicher Form einer Essstörung an uns, mit klaren Diagnosen wie etwa die klassische Magersucht, eine Binge-Eating-Störung oder Bulimie. Es existieren jedoch auch atypische Essstörungen, bei denen sich verschiedene Symptomatiken mischen. Im ambulanten Bereich betreuen wir zudem Menschen, bei denen mitunter noch keine finale Diagnose vorliegt, die aber bereits merken, dass die tägliche Nahrungsaufnahme Probleme verursacht. Auch (erhebliche) Gewichtsveränderungen können der Grund für eine Kontaktaufnahme sein.

Lassen sich Signale ausmachen, ab wann tatsächlich von einer Krankheit die Rede ist?

Es existieren klare Kriterien, die einer Diagnose – etwa im Falle einer Anorexia nervosa – zugrunde liegen. Probleme beim Essen entwickeln sich allerdings meist schleichend. Das beginnt vielleicht mit dem Wunsch, zwei bis drei Kilo abzunehmen, man verzichtet eine Zeit lang auf das Abendessen, und vom Umfeld gibt es für die Gewichtsabnahme ein tolles Feedback. Betroffene berichten häufig, dass sie dann jedoch den richtigen Zeitpunkt verpasst haben, ihre Diät zu beenden – und sich das veränderte Essverhalten verselbstständigte.

Wie gehen Sie da im Beratungsgespräch vor? Was ist bei der Ursachenforschung zu beachten?

Eine Essstörung ist immer ein multifaktorielles Geschehen – es existiert nie nur die eine Erklärung, weshalb sich solch eine Erkrankung entwickelt. Da können biologische Faktoren eine Rolle spielen, wie die Genetik oder die Hormone. Auch familiäre Aspekte können einen Grund sein: Welche Vorbilder existieren? Was für Erwartungen stehen im Raum? Was leben die Eltern mit ihrem Essverhalten vor? Die Kommunikation in der Familie, etwa bei Konflikten. Hinzu kommen soziokulturelle Faktoren: Wie ist mit den Erwartungen der Gesellschaft oder von Gleichaltrigen umzugehen? Welche Schönheitsideale existieren? All das spielt bei der Entwicklung einer Essstörung mit hinein, sodass sich die Ursachenforschung sehr anspruchsvoll gestaltet.

Social Media, Castingshows und die Werbung tun ein Übriges. Wie ist dieser permanente Vergleich mit teils unrealistischen Bildern einzuordnen?

Essstörungen entstehen im Schwerpunkt im jugendlichen Alter – ohnehin eine Zeit der Selbstfindung, verbunden mit körperlichen Unsicherheiten. Die Medien verstärken hier, was im Menschen bereits angelegt ist. Der Schönheitskult, der auf Plattformen wie Instagram betrieben wird, ist daher äußerst kritisch zu betrachten. Die Bilder von Personen, die dort ihren Körper, ihr Workout und sämtliche Mahlzeiten präsentieren, prasseln auf die jungen Konsumentinnen und Konsumenten ein. Dass diese Fotos, bevor sie gepostet werden, durch unzählige Filter laufen, unterstreicht deren unrealistische Eigenschaft. Das ist den Followern aber oft nicht bewusst. Wenn die Gedanken eines 13-jährigen Mädchens dann ohnehin schon permanent um den Körper und das eigene Gewicht kreisen, kann eine gefährliche Dynamik entstehen.

Ab wann lassen sich für das engere Umfeld Anzeichen für eine Essstörung ausmachen?

Wenn Familienangehörige oder Freunde, die regelmäßig mit der betroffenen Person zu tun haben, veränderte Wesenszüge oder Verhaltensweisen feststellen, ist das oft ein ernstzunehmendes Warnsignal. Das können seelische Veränderungen sein, etwa ein dünnhäutiges oder gereiztes Verhalten. Auch eine merkliche Traurigkeit, Antriebs- oder Freudlosigkeit im alltäglichen Leben können dazu zählen. Dies kann mit einem sozialen Rückzug einhergehen, sodass Freunde oder Hobbys vernachlässigt werden. Auf der anderen Seite gibt es die körperliche Ebene: Da verliert jemand sehr schnell an Gewicht oder verschwindet bei einem bulimischen Verhalten nach jeder Mahlzeit sofort im Bad. Andere wiederum versuchen den Gewichtsverlust zu kaschieren, indem sie plötzlich viel weitere Pullover tragen. Die Warnsignale sind äußerst vielschichtig.

Was können da Kritik und „gut gemeinte” Ratschläge auslösen?

Idealerweise suchen Angehörige oder Freunde das Gespräch, erkundigen sich nach dem Wohlbefinden, teilen ihre Beobachtungen mit, signalisieren, dass sie sich Sorgen machen und bieten Hilfe an. Kritik und „kluge” Ratschläge – vielleicht auch aus einer Hilflosigkeit heraus geäußert – erzeugen in der Regel noch mehr Rückzug oder ein Herunterspielen der Problematik. Wenn für Betroffene das Gefühl entsteht, in die Ecke gedrängt zu werden, wird die Essstörung vielleicht verteidigt oder durch diesen Stress eher noch gefördert und verschärft. Besser ist es, bei sich zu bleiben, die eigene Wahrnehmung zu teilen und jederzeit Unterstützung anzubieten.

Sie haben Rückzug und Isolation angesprochen: Inwiefern hat die Coronapandemie den Alltag der Betroffenen beeinflusst?

Eine Grunderfahrung, die wir in den letzten knapp zwei Jahren im ambulanten Bereich gemacht haben, ist, dass die Anzahl der Beratungsgespräche explodiert ist. Besonders in den Lockdown-Phasen haben sich sehr viele Teenager bei uns gemeldet. Das Außenleben wurde ja für uns alle schlagartig heruntergefahren, doch gerade junge Menschen haben unter dieser Isolation sehr gelitten. Durch den fehlenden Umgang mit Gleichaltrigen hatten sie mehr Zeit; vor allem Mädchen widmeten sich da Themen wie „Umsetzung einer gesünderen Ernährung” oder betrieben ein verstärktes Workout gegen die mangelnde Bewegung. Da sind wir wieder bei der bereits erwähnten Frage angelangt, wie ein gestörtes Essverhalten überhaupt Schritt für Schritt entstehen kann.

Welche Beobachtungen machen Sie darüber hinaus?

Beim Versuch einer Stressbewältigung, und die Pandemie ist für uns alle mit Stress verbunden, entsteht nicht selten der Wunsch, die Kontrolle zu behalten. Da bietet sich das Essen vermeintlich an: Ich kann bestimmen, wie viel ich esse und was ich zu mir nehme. Natürlich gab es auch vor dieser Extremsituation der Pandemie Konflikte oder andere belastende Faktoren in Familien, aber da bildeten Schule, Freundeskreis und Sportverein einen willkommenen Ausgleich. Fällt all dies weg, ist das veränderte Essverhalten mitunter eine Strategie, gewisse Dinge in unkontrollierbaren Zeiten „in den Griff” zu bekommen.  

Lassen sich Genuss, ein gesundes Essverhalten und das Zubereiten gehaltvoller Speisen wieder erlernen?

Erlernen lässt sich all das auf jeden Fall, immer vorausgesetzt, dass die Bereitschaft dazu vorhanden ist – eine Grundlage für jegliche Therapie und Beratung. Auch ist die Frage zu beantworten, ob die angepeilten Ziele überhaupt realistisch sind. Die genannten Aspekte lassen sich jedenfalls allesamt sehr gut in eine Ernährungsberatung integrieren. Wenn sich zeigt, dass die Probleme mit dem Essen alleine oder mit Ernährungsberatung nicht zu bewältigen sind bzw. eine diagnostizierte Essstörung vorliegt, ist eine Psychotherapie auf jeden Fall angezeigt. Wichtig ist immer: Es geht nicht darum, jede Mahlzeit in Perfektion zu gestalten. Das eine gesunde Essverhalten existiert nämlich nicht, vielmehr ist jeder Mensch, ist jeder Körper individuell zu betrachten.

Wie äußert sich das in Ihren Gesprächen?

Dort gilt es einerseits herauszufinden, mit welcher Ernährung der körperliche Bedarf abgedeckt ist; andererseits sollten aber auch die jeweiligen Wünsche, individuellen Bedürfnisse und die aktuelle Lebenssituation Berücksichtigung finden. Wenn tatsächlich eine Essstörung im Spiel ist, muss die betroffene Person in einer Therapie erlernen, worin die Angst vorm Essen begründet ist. Denn: Essen steht immer im Zusammenhang mit unseren seelischen Bedürfnissen und lässt sich nicht nur auf den Körper reduzieren.


 

TheraTeam

Das multiprofessionelle Team, bestehend aus approbierten PsychotherapeutInnen, PsychotherapeutInnen in Ausbildung, zertifizierten OecotrophologInnen, ErnährungswissenschaftlerInnen und DiätassistentInnen, ist seit mehr als 25 Jahren im Bereich Essstörungstherapie tätig. Im Zentrum der Arbeit stehen die Patientinnen und Patienten, mit denen gemeinsam Behandlungspläne auf Grundlage eines individuellen Störungsmodells entwickelt werden. Ein weiteres Themenfeld ist die persönliche und kompetente Beratung bei onkologischen Diagnosen. Die hochqualifizierten ErnährungstherapeutInnen von TheraTeam stehen Betroffenen auch hier in allen Phasen der Therapie zur Seite.

therateam.info

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