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Wenn die Familie an Belastungsgrenzen stößt

Wenn die Familie an Belastungsgrenzen stößt

Trotzphasen des Nachwuchses kennen alle Eltern – doch was tun, wenn die Frustrationstoleranz sinkt? Foto: © astrosystem - stock.adobe.com
Portratitfoto des Artikel-Autors Robert Targan
Von ROBERT TARGAN (Freier Texter, Autor & Redakteur)
5 Min.Lesezeit

Legen Kinder und Jugendliche über einen längeren Zeitraum erhöht aggressive Verhaltensweisen an den Tag, belastet dies das soziale und familiäre Umfeld schwer. Neben Wutausbrüchen, die sich verbal oder in Handgreiflichkeiten gegenüber Gleichaltrigen und Angehörigen äußern können, sorgen auch Ängste, Zwänge und Konzentrationsschwächen bereits in frühen Jahren für Alltagseinschränkungen. In der LWL-Klinik Marl-Sinsen (NRW) werden junge Patientinnen und Patienten mittels individueller Therapie auf ihrem Weg in ein selbstbestimmtes Leben begleitet.

Kinder testen Grenzen aus, sie finden sich in einer Trotzphase wieder, ein „Nein!” wird vielleicht mit kleinen Wutausbrüchen quittiert: So weit, so gewöhnlich in bestimmten Phasen des Heranwachsens. Doch was tun, wenn klare Regeln ständig missachtet werden, die Frustrationstoleranz des Kindes zusehends sinkt und der Unmut in verbalen oder gar körperlichen Aggressionen gegenüber Eltern und Geschwistern mündet? Eine große Hilfe für betroffene Familien und Angehörige ist hier die Erfahrung, dass sie mit derlei Problemen nicht alleine sind. Darauf setzt man auch in der LWL-Klinik Marl-Sinsen, wo junge Patientinnen und Patienten zur Heilung oder Linderung ihrer Krankheiten eine auf sie abgestimmte Therapieunterstützung erhalten. In der nordrhein-westfälischen Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie lernen sie, wie sie mit ihren Einschränkungen umgehen und in späteren Jahren ein eigenständiges Leben führen können. Denn neben den bereits genannten Auffälligkeiten zählen in Marl-Sinsen unter anderem auch Zwänge, Ängste und Stimmungsschwankungen zu möglichen Aufnahmegründen. Dr. Astrid Czipura, bereichsleitende Oberärztin, erklärt: „Hat ein Kind wiederholt Ärger in der Schule oder kann es sich partout nicht konzentrieren, können dies Symptome für ganz unterschiedliche Krankheitsbilder sein. Auf unseren Stationen behandeln wir etwa Depressionen im Kindesalter, Angst-, Zwangs- und Bindungsstörungen sowie ADHS. Vor einem Aufenthalt gilt es dabei immer zu klären, ob ein psychiatrisches oder doch eher pädagogisches Problem vorliegt.”

Wird ein Kind im Zuge einer fachärztlichen Ein- oder Überweisung in der Marler Klinik aufgenommen, folgt im engen Austausch mit der angehörigen Familie die Entscheidung darüber, welche Behandlung die sinnvollste ist. Dazu zählt auch die Einschätzung des Klinikpersonals, ob die jungen Patientinnen und Patienten eine vollstationäre, teilstationäre oder ambulante Betreuung erhalten. „Vollstationär heißt in diesem Fall, dass die acht- bis zwölfjährigen Kinder und Jugendlichen auch bei uns schlafen und sich werktags in der Klinik aufhalten”, gewährt Dr. Sahir Touati, ebenfalls bereichsleitende Oberärztin, einen Einblick. „Am Wochenende geht es dann nach Hause, wo zuletzt Gelerntes und Erarbeitetes idealerweise lebensnah, also innerhalb der Familie, umgesetzt werden kann. Auch bestärken wir die Kinder und Jugendlichen darin, sich während dieser Auszeit mit ihren Freunden zu treffen, damit diese Kontakte nicht verlorengehen.” Die teilstationäre Betreuung hingegen sieht eine tagesklinische Aufnahme mit gemeinsamem Frühstück und dem Besuch der Klinikschule vor; am frühen Abend werden die Patientinnen und Patienten von ihren Eltern wieder abgeholt. Ambulante Besuche finden in der Regel einmal pro Woche statt.

Ziele benennen und aktiv mitarbeiten

Nicht selten blicken die jungen Patientinnen und Patienten mit ihren Eltern auf einen langen Leidensweg zurück, bevor sie die LWL-Klinik Marl-Sinsen aufsuchen: Manch ein Kind hat unter Umständen bereits im Kindergartenalter aggressive Verhaltensweisen entwickelt, was sich etwa in Tritten, Bissen und Schlägen gegenüber den Eltern oder auch Gleichaltrigen geäußert hat. Aufgrund ihrer verbalen und körperlichen Ausbrüche stoßen die Betroffenen nicht selten auf Ablehnung oder auch Ausgrenzung, was bis weit in die Schulzeit überdauern kann. Schlimmstenfalls entsteht so eine Abwärtsspirale – die Kinder nehmen ihre Isolation wahr und beantworten den Frust darüber mit einem noch höheren Aggressionspotenzial.

So unterschiedlich sich die einzelnen Fälle auch gestalten können: Immer belasten sie das jeweilige Familienleben. Nach einer gemeinsamen Stationsbesichtigung mit den Ärztinnen und Ärzten sowie Therapeutinnen und Therapeuten folgen daher in Marl-Sinsen Gespräche über die möglichen Behandlungsziele. Dabei ist es essenziell, dass sowohl die Patientinnen und Patienten, als auch deren Eltern eben solche Ziele benennen können und die Bereitschaft zeigen, aktiv in der Therapie mitarbeiten zu wollen. Jennifer Zimmermann, übergreifende Stationsleitung in Marl-Sinsen, differenziert: „Während die Kinder und Jugendlichen auf unseren Stationen »3C – Perlentaucher« und »3D – Schatzsucher« Betreuung durch eine Bezugspflegekraft erhalten, werden in unserer Eltern-Kind-Einheit »Kunterbunt«, die psychisch erkrankten Mädchen und Jungen im Alter von sechs Monaten bis acht Jahren professionelle Hilfe bietet, die Bezugspersonen ebenfalls mitaufgenommen.” Dank dieser Konstellation könne eine unmittelbare Beobachtung der familiären Dynamik erfolgen; die engmaschige Einbindung der Eltern in die Therapie sei somit automatisch gegeben.

Gerade in diesen sehr frühen Jahren, in denen Bindungsstörungen, Ess- und Schlafstörungen sowie weitere psychosomatische Beschwerden Aufnahmegründe darstellen, nehmen Eltern und weitere Bezugspersonen die wichtige Rolle eines Partners auf dem Weg zur Gesundung der Kinder ein. In der LWL-Klinik finden daher regelmäßig Familientherapiegespräche und Elternabende statt. Zudem bieten Angehörigengruppen vor Ort Raum, persönliche Anliegen, Wünsche oder Anregungen in aller Ruhe zu besprechen. „Auf der Eltern-Kind-Station bekommen wir Konflikte unmittelbar und live mit”, berichtet Jennifer Zimmermann. „Da befinden wir uns im engen Austausch mit den Erziehungsberechtigten, um ihnen jede Menge Unterstützung und Lösungsansätze zu bieten. So ist es uns in erster Linie wichtig, während der üblichen Behandlungsdauer von vier bis zwölf Wochen, das gesamte Familiengefüge zu verstehen.” Im Idealfall, so ergänzt die übergreifende Stationsleiterin, nähmen Eltern nach dieser Zeit wertvolles „Handwerkszeug” mit nach Hause, um ihr Kind auch im Alltag besser verstehen zu können.              

Ängste überwinden und Verantwortung übernehmen

Auch in Haus 3 der Kinderstation, dort wo die acht- bis zwölfjährigen „Perlentaucher” und „Schatzsucher” behandelt werden, kommt ein wichtiges „Handwerkszeug” zum Einsatz, nämlich Achtsamkeit. Denn seit einiger Zeit leben die drei Achatschnecken Turbo, Gerry und Blitz im Dienstzimmer von Jennifer Zimmermann – im eigenen artgerechten Terrarium werden die tierischen Bewohner täglich von den Kindern und Jugendlichen mit Obst, Gurken und Mehlwürmern gefüttert. Damit es das kriechende Trio in seiner Behausung so richtig gemütlich hat, wurden zudem gemeinsam mit einer Erzieherin im Wald Laub, Äste und Humus gesammelt. „Im Vorfeld hatte ich nicht damit gerechnet, dass die Schnecken bei den Patientinnen und Patienten tatsächlich so hoch im Kurs stehen würden”, freut sich Zimmermann, nicht ohne den pädagogischen Hintergrund zu skizzieren: „Manche Mädchen und Jungen müssen da erst einen gewissen Ekel überwinden und Mut fassen, um sich den Schnecken zu nähern oder sie auf die Hand zu setzen. Andere wiederum haben da keinerlei Berührungsängste.” Ein echtes Highlight sei für die jungen Tierfreunde das Bürsten der Schneckenhäuser, denn beim Reinigen der fragilen Häuschen mit Zahnbürsten und Wasser gelte es größte Sorgfalt an den Tag zu legen. Der behutsame Umgang fördere die Aufmerksamkeit und das Verantwortungsbewusstsein der Kinder – gleichzeitig werden Ängste abgebaut.

Und so ist der Blick in der Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie stets nach vorn gerichtet: Im Anschluss an einen Aufenthalt folgen für die Patientinnen und Patienten in der Regel ambulante Maßnahmen wie eine Therapie oder auch die Begleitung durch das Jugendamt. Die bereichsleitende Oberärztin Astrid Czipura konkretisiert: „Schon im Aufnahmegespräch erklären wir, dass bereits in diesem Moment gleichzeitig das Entlass-Management beginnt. So möchten wir den Eltern und ihrem Kind signalisieren, dass auch die Zeit nach der Behandlung gut abgedeckt ist, sodass das hier Erarbeitete erfolgreich ambulant fortgeführt werden kann.” Eine wichtige Botschaft auf dem Weg in ein selbstbestimmtes Leben.

lwl-klinik-marl.de

 

Behandlung von psychischen Erkrankungen

In der LWL-Klinik-Marl-Sinsen (Landschaftsverband Westfalen-Lippe) werden sämtliche Formen psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen behandelt. Dazu gehören Psychosen und Neurosen, Suchterkrankungen, Persönlichkeitsstörungen, körperlich begründbare psychische Erkrankungen und psychische Störungen. Für alle Patientinnen und Patienten erstellen die Ärztinnen und Ärzte sowie Therapeutinnen und Therapeuten jeweils einen auf die einzelne Person abgestimmten Behandlungsplan, der ambulant, teilstationär oder stationär umgesetzt wird.

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