Wer über ein starkes Selbst verfügt und zielstrebig durchs Leben wandelt, begegnet seinen Mitmenschen auf Augenhöhe. Doch was tun, wenn es an Selbstwertgefühl mangelt und dies in verschiedenen Lebensbereichen zur Last wird? Die Psychotherapeutin und Bestsellerautorin Stefanie Stahl zeigt in ihrem Ratgeber „So stärken Sie Ihr Selbstwertgefühl“ auf, was fehlende Ich-Stärke im Alltag bewirkt und wo die Hebel zur Veränderung angesetzt werden können.
Menschen mit wenig Selbstwertgefühl eignen sich gewisse Überlebensstrategien an, um durch den Alltag zu kommen. Wie schwer fällt es Betroffenen, dieses Verhalten an sich zu erkennen?
Stefanie Stahl: Es gibt durchaus Menschen, die es kategorisch ablehnen, über sich selbst nachzudenken. Da wird die Angst vor Selbsterkenntnis möglichst verdrängt. Im ersten Schritt ist also eine innere Bereitschaft notwendig. Menschen, die diese mitbringen, können reflektieren, wie sie aufgewachsen sind und was sie von ihren Eltern gelernt haben. Das ist ganz entscheidend: Diese Prägung kann man verstehen wie ein Brille, durch die man die Welt sieht. Es ist immens wichtig, sich diese Brille genauer anzuschauen.
Den einen plagt die kleine Unsicherheit, der andere ist vielleicht bereits in einer Depression versunken. Inwiefern hängen psychische Probleme mit einem geringen Selbstwertgefühl zusammen?
Jeder hat natürlich sein kleines Päckchen zu tragen – aber auch hier spielen die persönlichen Prägungen eine große Rolle. Wer aus einem Elternhaus stammt, wo Mutter und Vater oft gestresst waren, konnte dies in Kindestagen nicht nachvollziehen. Da verfestigte sich dann aber vielleicht der Gedanke: „Ich falle Mama und Papa zur Last.“ So entstehen tiefe innere Programme, die als unbewusstes Muster bis ins Erwachsenenalter mitgenommen werden. Mit weitreichenden Folgen.
Welche zum Beispiel?
Da können sich verschiedene Lebensgefühle entwickeln: „Ich bin meinen Mitmenschen schnell zu viel“ oder „Ich muss mich sehr anstrengen, damit Leute mich mögen und annehmen.“ Vielleicht entsteht auch ein Helfersyndrom oder der betroffene Mensch strebt nach absoluter Perfektion. Auch Überangepasstheit kann eine Folge sein – aus lauter Angst, abgelehnt zu werden. Da wäre es wichtig zu erkennen, dass es sich eben um alte Prägungen handelt.
Sie sprechen da von einer „Dauerwunde“ …
… unter der viele Menschen leiden. Der Betroffene versucht mit verschiedenen Selbstschutzstrategien den „Schmerz“ zu kompensieren und verhält sich so, dass er diese „Wunde“ nicht spürt. Die Eltern haben ihm vielleicht nicht hinreichend das Gefühl vermittelt, dass sie ihn lieben, so wie er ist. Daraus entsteht dann später eine große Grundverunsicherung. Da braucht es dann manchmal nur ein Körnchen Salz, um die Wunde wieder zum Brennen zu bringen. Andere Menschen wählen wiederum den gegenteiligen Weg und sagen sich: „Ihr könnt mich alle mal!“
Letztgenannte Spezies ordnen Sie im Buch als „Zicken“ ein, egal ob weiblich oder männlich. Wie sieht deren Taktik aus?
Die verlassen sich am liebsten nur auf sich selbst und machen sich von niemandem abhängig. Sind wenig angepasst und alles andere als pflegeleicht. Hier fallen mir diese typischen Ellbogenmenschen ein, die mit dem notorischen Gefühl durch die Welt laufen, dass sie zu kurz kommen. Ich spreche da tatsächlich gerne von „Zicken“ – das sind eben nicht die, die nach Harmonie streben und immer alles richtig machen möchten. Sondern die, die sich viel zu früh wehren, weil sie sich auch viel zu früh angegriffen fühlen. Immerhin: Bei diesen Menschen weiß man wenigstens, woran man ist.
Kommunikation spielt hier also eine große Rolle, oder?
Kommunikation ist ja immer ein Ergebnis davon, wie ich die Welt wahrnehme. Wer das Gefühl hat, nicht zu genügen und gleichzeitig andere Menschen als überlegen wahrnimmt, kann zum einen Aggressionen entwickeln, oder aber auch in seiner Kommunikation defensiv agieren, um sich vor Angriffen zu schützen. Beide Fälle sind nicht authentisch. Weisen zwei Menschen eine völlig unterschiedliche Wahrnehmung auf, können diese nie auf einen gemeinsamen Nenner kommen. Ich verwende da gern das Bild zweier Menschen, die in New York in gegenüberliegenden Hochhäusern leben: Der eine wohnt im 50. Stock, mit bester Sicht inklusive Central Park, der andere sitzt im dritten Stock und sieht nur die Cola-Werbung.
Da herrscht keine gemeinsame Wirklichkeit.
Genau – es sei denn, beide reflektieren eben, dass sie in völlig verschiedenen Etagen hocken. So ist es im wirklichen Leben auch: Wenn ich mich selbst nicht reflektieren kann und nicht weiß, wo ich stehe, bin ich voll identifiziert mit meiner Sicht auf die Wirklichkeit und glaube alles, was ich sehe und fühle. Dann steht mein Gegenüber mit mir aber auf verlorenem Posten.
Bei Kritik verfallen unsichere Menschen nicht selten in eine Verteidigungshaltung, streiten ab, sind schnell gekränkt. Was raten Sie bei dieser Problematik?
Da ist es von Vorteil, Kritik als das zu erkennen, was sie ist: Nämlich Kritik an einer bestimmten Verhaltensweise und nicht am gesamten angesprochenen Menschen. Ein weiteres Bild: Befindet sich in einem großen Blumenstrauß eine einzige welke Blume, wertet das nicht den gesamten Strauß ab. Heißt: Werden unsichere Menschen kritisiert, setzt schnell das „Ich bin ein Versager!“-Programm ein und sie stellen sich komplett in Frage.
Wie lassen sich diese übernommenen Einstellungen, Emotionen und Werte denn „entrümpeln“, damit sie nicht zur dauerhaften Belastung geraten?
Da schlage ich eine „persönliche Bestandsaufnahme“ vor, indem man sich fragt: „Was habe ich von meinen Eltern mitbekommen und wie sehe ich das?“ Also die eigene Meinung hinterfragen und behalten, was man gut findet und „raus werfen“, was man an bestimmten Werten eigentlich nur übernommen hat. Sich durchaus eingestehen, dass man nicht fehlerfrei ist und die ein oder andere Macke akzeptieren. Schritt für Schritt kann man sich so von seinem – wie ich es nenne – Schattenkind lösen.
Gleichzeitig betonen Sie, wie wichtig es ist, dankbar zu sein, positive Gedanken zu formulieren und bewusst zu genießen.
Ich sage immer: „Man darf das Gehirn nicht sich selbst beim Denken überlassen.“ Denn aufgrund der genetischen Veranlagung hat es die Neigung, sich immer auf das Negative zu fokussieren. Der Steinzeitmensch musste schließlich darauf achten, neben den 50 gut schmeckenden Pflanzen nicht die eine giftige zu erwischen. Das Gehirn möchte also immerzu Baustellen aufräumen – dadurch kann es sich in negativen Gedanken festfressen. Es ist wichtig, dass man sich bei diesem Vorgang ertappt, einen Schritt zurückgeht und bewusst auf Weitwinkel stellt: Nicht darauf schauen, was man nicht kann, sondern darauf, was alles da ist.
Selbstsicherheit lässt sich also erlernen?
Nehmen wir einen Menschen, der total nach Harmonie strebt. Der immer versucht, alles richtig zu machen und konfliktscheu ist. Dieser erkennt nicht, dass er durch sein Harmoniebestreben vielleicht seine Beziehung belastet, dass er nicht ganz ehrlich ist und es viel fairer wäre, öfter mal den Mund aufzumachen. Harmoniestreber ärgern sich meist nach innen und werden immer wütender auf eine Person, ohne diese davon wissen zu lassen. Jenen Menschen entgegne ich dann: „Versuch doch mal, etwas offener und konfliktfähiger zu sein. Hör auf, dich auf die falschen Schwächen zu fokussieren.“
Gibt es einen Tipp, um positive Gedanken zu forcieren?
Ich weiß von vielen Menschen, dass sie zum Beispiel abends in ein Dankbarkeitstagebuch schreiben und das als sehr hilfreich empfinden. Sich fünf Minuten mit der Frage zu beschäftigen: „Wofür kann ich heute dankbar sein?“ Wer diese Disziplin aufbringt wird bald bemerken, dass sich die Wahrnehmung verändert, da man auch schon während des Tages viel mehr darauf achtet, wofür man dankbar sein kann. Eine simple Maßnahme, die aber absolut hilfreich ist.