Jungen sind temperamentvoll und wild, Mädchen brav und verträumt – Klischees wie diese klingen längst überholt und antiquiert. Doch der Blick in die Kinderabteilungen vieler Modehäuser zeigt: Furchtlose Superhelden und zauberhafte Prinzessinnen halten immer noch als beliebte T-Shirt-Motive her. Auch Beschriftungen und Farben bedienen bestimmte Stereotype. Doch was bedeuten Leitbilder wie Stärke, Abenteuer, Schönheit und Naivität für die Entwicklung eines Kindes? Und wie können sie den späteren Lebensweg beeinflussen?
Wird es ein Junge oder ein Mädchen? Möchten werdende Eltern den Freunden und Verwandten das Geschlecht ihres Nachwuchses offenbaren, bieten sich ihnen heutzutage unzählige Möglichkeiten, um das Geheimnis in einem festlichen Rahmen zu lüften. Der neueste Trend, der mehr und mehr aus den USA zu uns herüber schwappt, hört auf den Namen Gender Reveal Party: Bei diesem „Upgrade“ der klassischen Babyparty richten sich Deko und Programm ganz nach der zu verkündenden Botschaft. Ob Ballons, Tischschmuck, Geschirr, Servietten oder Girlanden – es werden unzählige Accessoires von Partyservices und Onlinehändlern angeboten, vornehmlich in der Kolorierung Rosa und Hellblau sowie in der Kombination beider Töne, versehen mit einem spannungserzeugenden Fragezeichen. Doch woher kommt diese farbliche Einordnung eigentlich, die Mädchen Rosa und Jungen Hellblau zuschreibt, und die auch in der Modeindustrie, im Spielwarenhandel oder bei der Auswahl des Schultornisters den (Farb-)Ton angibt? Die Soziologin Prof. Dr. Petra Lucht forscht seit vielen Jahren zum Schwerpunkt Gender & Diversity, zurzeit als Gastprofessorin an der Freien Universität Berlin (Fachbereich Biologie, Chemie, Pharmazie). Sie blickt zurück: „Historisch ist es relativ einfach zu belegen, dass es sich bei dieser Farbzuordnung mehr oder weniger um einen Zufall der Geschichte handelt. Ein Beispiel: Erst kürzlich sah ich in einem Museum ein Kunstwerk aus der Barockzeit, das die Darstellung eines Jungen im hell leuchtenden roten Rock zeigte. Auch hatte er längere Haare. Ein anderes Gemälde wiederum bildete ein junges Mädchen im hellblauen Gewand ab.“ Bunte Kleidung, so die Wissenschaftlerin, sei vor dem 20. Jahrhundert zudem noch ein Zeichen für Reichtum gewesen. Auch wurde die Farbe Hellblau in früheren Jahrhunderten mit der Jungfrau Maria assoziiert; Rot hingegen galt einst als Farbe des Militärs.
Heutzutage, beim Blick in die Kindermode-Abteilungen oder Online-Shops großer Ketten, fallen nicht nur immer wieder die genannten Zuschreibungen Mädchen = Rosa und Jungen = Hellblau auf; auch viele Motive, Aufdrucke und Slogans tragen zu geschlechterstereotypen Rollenbildern bei. Neben Substantiven wie „Love“, „Star“ und „Princess“ sowie Adjektiven à la „sweet“, „cute“ und „lovely“ auf den T-Shirts für Mädchen, fallen bei den Jungen Begriffe wie „crazy“, „cool“, oder „King“ und „Rebel“ ins Auge. Auch konkurrieren glitzernde Sternchen und fliegende Einhörner mit mutigen Astronauten und brüllenden Dinosauriern. „Bei der Kleidung für Mädchen dreht sich vieles um Emotionen“, so Petra Lucht, „die Natur wird allgemein als ungefährlich und kuschelig dargestellt.“ Shirts, die wiederum für Jungen designt und vermarktet werden, würden Gefahr, Grenzüberschreitungen oder auch Abenteuerlust suggerieren. Große Teile der Gesellschaft nehmen solcherlei geschlechtsbedingte Vorurteile gar nicht wahr, doch Soziologinnen und Soziologen beklagen die Folgen dieser Rollenzuschreibungen schon lange. Natürlich: Wer einem kleinen Jungen ein T-Shirt mit Weltraum- oder Feuerwehrmann-Motiv schenkt, beeinflusst nicht per se dessen späteren Berufswunsch. Es entstehe laut Petra Lucht jedoch ein gewisser Identifikationsmoment, der eine Zukunft abbilden könne: „Es handelt sich dabei um eine willkürliche Zuordnung. Möchten Eltern ihre Kinder bei der Fächerwahl in der Schule unterstützen oder ihnen später eine breite Auswahl an Berufen aufzeigen, bieten sich ihnen heute glücklicherweise viele Möglichkeiten. Ein bundesweites Angebot sind etwa die Girls’ und Boys’ Days, die Mädchen und Jungen dazu einladen, jeweils in Berufe hineinzuschnuppern, die als untypisch für ihr Geschlecht gelten.“
Typische „Mädchen- und Jungenfächer“
Es sind also ganz alltägliche Entscheidungen oder Gesten, die Heranwachsenden stereotype Geschlechterbilder vermitteln und so auf dem weiteren Lebensweg begleiten können. Im Schulkontext verdeutlicht dies die Kategorisierung bestimmter Unterrichtsfächer in typische „Mädchen- und Jungenfächer“. So werden mathematische und naturwissenschaftliche Inhalte (MINT-Fächer*) oftmals als männliches Spezialgebiet angesehen, während Mädchen und Frauen eher in den Sprachen oder der Kunst als begabter gelten. Die Erwartungshaltung, dass die schulischen Leistungen von Jungen in Mathematik, Physik oder Informatik jene der Mädchen übertreffen, fördert dabei verfestigte Rollenbilder, die sich auch auf die weitere Karriereplanung auswirken können – zum Beispiel dann, wenn Männer eigentlich eine Tätigkeit im erzieherischen oder pflegerischen Bereich anstreben oder Frauen einen Beruf im Handwerk oder in der IT-Branche. Was können Eltern tun, um derlei Klischees entgegenzuwirken? Wie hilfreich wäre es für die Kindesentwicklung, wenn ein Aufbrechen klassischer Rollen aktiv im Alltag vorgelebt wird? „Das Präsentieren einer möglichst breiten Palette an Kleidung, Hobbys oder Interessen kann sehr hilfreich sein“, weiß Petra Lucht. „Wichtig ist dabei immer die Toleranz der Eltern, sollten sich ihre Töchter oder Söhne nicht aktuellen Trends entsprechend orientieren – ob nun bei der Wahl eines Schulfaches oder später im Beruf.“ Letztlich handele es sich um eine gesellschaftliche Entwicklung, die von jeder einzelnen Person mitgestaltet werden könne – nicht alleine, aber eben gemeinsam, um auf diese Weise mehr Vielfalt und Toleranz zu fördern.
Dass weiterhin Berufe und Branchen existieren, in denen Frauen oder Männer jeweils unterrepräsentiert sind, zeigen Zahlen des Statistischen Bundesamtes. In den Handwerksberufen betrug die Erwerbsbeteiligung von Frauen im zurückliegenden Jahr 2023 lediglich 10,2 Prozent. Auch im Tätigkeitsfeld der Anlagen- und Maschinenbedienung sind weibliche Angestellte mit 15,3 Prozent in der Unterzahl. Frauen sind eher in den Berufsfeldern Gesundheit, Soziales, Lehre und Erziehung zu finden; der männliche Anteil liegt hier wiederum bei 21,3 Prozent. Laut der Soziologin Petra Lucht seien aber durchaus Veränderungen zu beobachten: „Männer ergreifen zunehmend auch Berufe in typisch weiblichen Domänen – und umgekehrt. Dabei ist es so, dass sich das Berufswahlspektrum von Frauen in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten stärker vervielfältigt hat, als das der Männer.“ Somit sei – wie es auch die Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen – nicht in jedem Berufszweig eine Annäherung spürbar. „Frauen am Steuer eines BVG-Busses hier in Berlin sind heute aber beispielsweise kein ungewöhnliches Bild mehr.“
„Es existiert eine viel größere Vielfalt“
Zurück in die Welt der Prinzessinnen, der Dinosaurier und der heldenhaften Astronauten: Wenn große Modeketten und Online-Händler ihre angebotene Kleidung mit diesen und ähnlichen Motiven versehen, weisen sie den jungen Trägerinnen und Trägern nicht nur gewisse Rollen zu (Verträumtheit, Abenteuerlust, Mut), sie bilden auch gleichzeitig eine Gesellschaftsstruktur ab, die weiterhin von einer zweigeschlechtlichen Zuschreibung ausgeht. „Es existiert heutzutage aber eine viel größere Vielfalt, sozial-kulturell, aber auch biologisch-medizinisch“, bemerkt Petra Lucht. „Darum ist es so wichtig, über diese Norm der Zweigeschlechtlichkeit hinauszudenken.“ Und das gelte eben auch bei folgenden Fragen: Welche Kleidung möchte ich zu Weihnachten verschenken? Wie soll das Kinderzimmer gestrichen werden? Wie lassen sich geschlechtsunabhängige Berufswünsche fördern? „Bis heute ist es dieses zweigeteilte Normsystem, das wie selbstverständlich unser Verhalten, unser Handeln und unsere Emotionen prägt und dabei die Offenheit für mehr Vielfalt einschränkt“, so die Wissenschaftlerin weiter.
Denn ob in Kita oder Schule, in der Familie oder im Freundeskreis: Als Gesellschaft begegnen wir tagtäglich einer Fülle an ganz unterschiedlichen Lebensentwürfen, Biographien und Konstellationen. Wer sich dessen bewusst ist und dies reflektiert, kann Normen und Zuordnungen, die strikt in zwei Welten einteilen, hinter sich lassen. Der entsprechende Perspektivwechsel gelingt dabei mitunter spielerisch, etwa mittels farblicher Neugestaltung im Alltag, durch einen temporären Rollentausch in der Familie oder auch dank gezielter Fragen beim abendlichen Vorlesen: „Wie findest du es, dass immer nur Lottas Mama kocht, und nicht ihr Papa?“. Kleine Impulse und Ideen also, die für den weiteren Lebensweg jedoch einen großen Wert besitzen können.
* Als MINT-Fächer werden Fächer aus den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik bezeichnet.